In Bulgarien GESTRANDET

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Zehntausende Flüchtlinge sind in Bulgarien gelandet. Die Lebensumstände sind prekär, sie fühlen sich von Polizisten bedroht. Ein Lokalaugenschein.

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Zehntausende Flüchtlinge sind in Bulgarien gelandet. Die Lebensumstände sind prekär, sie fühlen sich von Polizisten bedroht. Ein Lokalaugenschein.

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Nach Bulgarien kommt man schwer hinein und man kommt genauso schwer wieder raus", sagt ein junger Mann, der Rash genannt werden will. Auf beiden Seiten werde man mit Prügeln empfangen. Rash tritt als Sprecher einer Gruppe vorn Afghanen auf, weil er am besten Englisch kann. Sein amerikanischer Akzent verrät, dass er für die US-Truppen tätig gewesen ist. Grund genug für die Taliban, den Mann aus der ostafghanischen Provinz Laghman, zu verfolgen. "Wenn du für die Koalition gearbeitet hast, dann bist du für sie ein Ungläubiger und daher ein toter Mann", sagt Rash.

Ein Lager auf der Wiese

Die Flüchtlinge lagern auf einer Wiese gegenüber dem Aufnahmezentrum Ovcha Kupel im Westen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Ein paar inzwischen entlaubte Büsche bieten kaum Schutz vor Wind und Kälte. Mit einem "Dschungel", wie die Flüchtlinge diese unwirtliche, mit Müll übersäte Stätte nennen, hat das Gelände wenig gemeinsam. Zwischen 100 und 150 Menschen schlafen hier, die meisten afghanische Männer. Ovcha Kupel ist mit 860 Plätzen das größte Aufnahmezentrum in Sofia und derzeit nicht einmal zur Hälfte ausgelastet. Dennoch bleiben die Tore für viele Flüchtlinge geschlossen. Das ehemalige Wohnheim für Parteigenossen ist ein düsterer Bau aus der kommunistischen Ära, der den Charme einer Kaserne versprüht.

Rajah aus Aliabad in der afghanischen Provinz Kundus versucht seit zwei Monaten, Bulgarien zu verlassen. Wie die meisten will er nach Deutschland. Er krempelt den Ärmel hoch und zeigt eine Verletzung über dem Handgelenk. Die grob vernarbte kreisrunde Wunde soll von einem Prügel der bulgarischen Polizei stammen. "Sie sollen doch die Grenzen öffnen", ruft einer. Einer nach dem anderen legt ähnliche Narben frei: am Ellenbogen, am Unterarm oder -verursacht durch Fußtritte -über den Knöcheln. Der 18-jährige Najib erzählt, er sei drei Monate in einem bulgarischen Gefängnis gesessen. Danach sei er ohne Dokumente wieder freigelassen worden. Die Arrestzellen an der Grenze seien die Hölle, versichert Rash: "Die Zellen sind völlig verdreckt. Du bekommst zwei Tage nichts zu essen. Sie lassen dich nicht einmal pissen". Fünfmal habe er bereits versucht, die serbische Grenze zu überqueren. Immer sei er gescheitert. "Syrer müsste man sein, dann wird man nach wenigen Tagen durchgewunken". Tatsächlich liegt die Quote von Syrern, die entweder Asyl oder humanitären Aufenthalt bekommen, nahe 100 Prozent. Für Afghanen weist die Statistik eine Ablehnungsquote von 94 Prozent aus. Pakistaner und Afrikaner haben null Chance auf Bleiberecht.

Schockierende Geschichten

Die Klagen der afghanischen Flüchtlinge decken sich mit den Ergebnissen eines Berichts, den das Belgrader Zentrum für Menschenrechte Mitte November veröffentlicht hat. Er beruht auf Befragungen von mehr als 100 Flüchtlingen, die über Bulgarien nach Serbien eingereist sind.

Da ist die Rede von einem bulgarischen Polizeibeamten, der eine Schusswaffe an die Stirn eines Flüchtlings gepresst habe; andere Flüchtlinge hätten bewusstlos auf dem Boden gelegen. Wieder andere seien von Polizisten geschlagen worden weil sie sich verstecken wollten. "Sie nahmen ihnen ihre Wertsachen, Essen und Trinken ab", heißt es in dem Bericht: "Später, an der Grenze zu Serbien, hetzten Polizisten Hunde auf sie, und einige Flüchtlinge berichteten, dass sie Schüsse gehört hätten. Sieben Personen aus der Gruppe seien verschwunden, und die anderen hätten seither nichts mehr von ihnen gehört". Zwei afghanische Männer seien durch Schüsse der Polizei verletzt worden. Alle geschilderten Fälle sollen sich in den vergangenen fünf Monaten ereignet haben.

Am 15. Oktober wurde ein Afghane durch eine Polizeikugel getötet. Ein Querschläger, so die Darstellung der Polizei, die 30 Kilometer von der türkischen Grenze eine Gruppe von etwa 50 Afghanen unter einer Brücke stellte. Die Überlebenden wurden festgenommen und in das Polizeigefängnis Elhovo gebracht. Das Gesetz erlaubt den Schusswaffengebrauch nur in äußersten Notsituationen. Amnesty International bezweifelt, dass eine solche vorgelegen habe und ruft die Behörden auf, den Festgenommenen ein faires Asylverfahren zu gewähren. Das Innenministerium untersucht noch. Es ist jedenfalls der erste Fall seit Beginn des jüngsten Exodus, dass ein Flüchtling durch eine Polizeiwaffe auf EU-Territorium zu Tode kam.

Zum Vorwurf der Polizeiübergriffe an der Grenze lässt Innenministerin Rumiana Bachvarova auf Anfrage ausrichten, alle Hinweise "auf strafrechtlichen Gebrauch von körperlicher Gewalt, Hilfsmitteln, Waffen und Signalen zur Missachtung von Menschenrechten durch Beamte, die am Schutz der Staatsgrenze beteiligt sind", würden überprüft. "Bei einer Feststellung von Verstößen werden angemessene Disziplinarmaßnahmen verhängt. Bei Anzeichen auf Straftaten werden die Strafverfolgungsbehörden der Staatsanwaltschaft unverzüglich benachrichtigt". Die eigenen Nachforschungen haben offenbar keine Ergenisse gebracht. In Bulgarien selbst habe der Bericht wenig Staub aufgewirbelt, kommentiert Georgi Minev, Chefredakteur eines online-Wirtschaftsmagazins. Nachfragen kämen praktisch nur aus dem Ausland.

Der Landweg über Bulgarien wird bisher im Gegensatz zu den Meeresrouten kaum von Medien und Öffentlichkeit beachtet. Der Belgrader Bericht will dies ändern und "Licht auf die ungeheuerlichen Vorgänge in Bulgarien werfen". Die Schwere und Häufigkeit der dortigen Misshandlungen von Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Armut sind, seien schockierend und für einen EU-Mitgliedsstaat völlig inakzeptabel: "Wir verlangen eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge in Bulgarien, und wir fordern die bulgarische Regierung auf, die Übergriffe uneingeschränkt zu verurteilen."

Die Gefahr im Landesinneren

Die Löwenbrücke trennt den historischen Teil von Sofia von den hässlichen Außenbezirken. Sie führt über den Vladaya-Fluss, der im milden November eher als Bächlein daherkommt. Wo am Abend Pärchen händehaltend auf den Bänken sitzen, halten sich untertags auch gerne Flüchtlinge auf. Die Moschee ist ebenso in Gehweite wie der Busbahnhof, von wo der Transport nach Serbien geht. "Das Schlimmste ist, dass dir die Polizei das Handy wegnimmt", erzählt ein Afghane. Sahil versichert, Polizisten hätten ihm sein Geld gestohlen: 350 Euro an der türkisch-bulgarischen Grenze und die letzten 150 an der serbischen Grenze.

Jetzt habe er nichts mehr. Gefahr droht Flüchtlingen aber nicht nur an der Grenze. Im Landesinneren treiben sich entlang der Flüchtlingsrouten selbsternannte Jäger herum und Roma-Banden, die gestrandete Ausländer überfallen, ausrauben und an die Polizei übergeben. Es gibt auch Berichte von Leuten, die tagelang von Kriminellen, die sich als Schlepper andienen, festgehalten und erst gegen Lösegeld wieder freigelassen wurden.

Rapide steigende Zahlen

Bulgarien sah sich schon 2013 mit rapide ansteigenden Flüchtlingszahlen konfrontiert. Man zählte mehr als 9000 Asylsuchende. Das kurzlebige Expertenkabinett unter Premier Plamen Wassilew Orescharski entschloss sich, einen Zaun entlang der türkischen Grenze zu errichten. Die niederländische Regierung lieferte Wärmebildkameras, die das Entdecken von Flüchtlingsgruppen schon auf türkischem Territorium erlauben. Die Rechnung ging auf. 2014 wurden nur mehr etwas mehr als 4000 Flüchtlinge registriert. Mit dem Abwärtstrend ist es vorbei. Allein in den ersten neun Monaten 2015 wurden über 12.000 Asylanträge abgegeben.

Die meisten Flüchtlinge versuchen der Registrierung zu entgehen, weil sie fürchten, unter dem Dublin-Abkommen nach Bulgarien zurückgeschoben zu werden, wenn sie es einmal nach Deutschland oder Schweden geschafft haben. Die Befürchtung besteht nicht zu Unrecht. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres wurden 260 Asylwerber aus anderen EU-Ländern nach Bulgarien abgeschoben. Die meisten davon aus Deutschland und Österreich.

Im "Dschungel" vor den Toren von Ovcha Kupel haben die Männer andere Sorgen. Sie klagen über Hunger und unsauberes Wasser. Notdürftig versorgt werden sie nur von Freiwilligenorganisationen. "Wir werden alle krank", schimpft Rajah aus Aliabad. Und der milde Herbst ist vorbei. Der Winter kündigt sich mit kaltem Regen an.

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