"Sie folgen keinem Traum, sie wollen raus!"

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Globalisierte Welt - nichts ist mehr für sich allein, alles gehört zusammen. Abschotten, Mauern ist da mit Sicherheit die falsche Strategie.

Das Zusammentreffen mit Asylsuchenden aus Georgien bestätigt eindrucksvoll die Chaostheorie. Vielleicht nicht im streng wissenschaftlichen, physikalischen Sinn, so doch im politischen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Bereich. Chaostheorie - wie war das noch einmal? Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Indien löst einen Hurrican an der Küste Kaliforniens aus. Und der Sack voller Reis, der irgendwo in China umfällt? Keine Ahnung mehr, was dieser Umfaller im Osten an Unfällen im Westen produziert. Um die Details geht es ja auch gar nicht. Wichtig ist, jede Wirkung hat irgendwo ihre Ursache, kein Ausgangspunkt bleibt ohne Endpunkt. Nichts ist für sich allein, alles gehört zusammen - die vielzitierte globalisierte Welt eben.

Ausgangspunkt in diesem konkreten Fall ist Georgien, Batumi, eine Stadt im Westen des Landes, am Schwarzen Meer gelegen. Endpunkt ist das Karwan Haus in der Wiener Blindengasse, ein Caritas-Übergangswohnheim für Ausländer in Notsituationen. Dazwischen liegt Chaos, Verzweiflung, Flucht. "Im Kaukasus muss es im Moment brodeln", vermutet Karwan-Heimleiterin Barbara Greinöcker. Wie kommt sie darauf? Von den Auswirkungen, die sie jeden Tag hautnah miterlebt, schließt sie auf die Situation in den GUS-Staaten.

Man spricht Russisch

Auffallend groß sei die Gruppe der geflüchteten Georgier in diesen Wochen geworden, rechnet Greinöcker vor. An die 50 belegten in den letzten Monaten das Haus, dessen Kapazität für 110 gedacht ist und derzeit mit einer Belegzahl von 150 aus allen Nähten platzt. Ein Blick in die Statistik des Innenministeriums zeigt, dass die Georgier jetzt schon die viertgrößte Gruppe nach den Afghanen, Irakern und den kaukasischen Nachbarn aus Armenien sind. 665 Asylansuchende aus einem Land so groß wie Bayern allein in diesem Jahr. Von insgesamt 8.269 aus 78 Staaten, Stand Ende März dieses Jahres. Den Wechsel in der Nationalität der Flüchtlinge bemerkt Greinöcker vor allem daran, nach welchen Dolmetschern sie Ausschau halten muss, und "Russisch wird dabei mehr und mehr die vorwiegend benötigte Sprache".

Es kommt jedoch noch ein anderes Kriterium hinzu: Im Karwan Haus finden jene Unterkunft - "Karwan" heißt übrigens "Zuflucht" auf Persisch -, denen der Staat keine Betreuung gewährt. In Österreich ist, im Unterschied zu Deutschland zum Beispiel, das Recht auf Bundesbetreuung eine Kann- aber keine Muss-Bestimmung. Nach welchen Kriterien, die einen Flüchtlinge Einlass in eine Bundesbetreuungsstelle finden, die anderen jedoch nicht, weiß Greinöcker momentan "weniger denn je zuvor". Bedürftigkeit, Alter, Krankheit, schließt sie jedenfalls als entscheidende Bewertungsmaßstäbe aus. Denn schon "mit freiem Auge erkennbar Kranke" klopfen an die Tür von Karwan. In der Hand einen A4-Zettel mit Namen, Datum, Aktenzahl - offiziell ausgewiesen als Asylwerber, also keineswegs illegal im Land. Das nützt aber nicht viel, wenn sich der Staat vor der Betreuung drückt und das Arbeiten für den eigenen Unterhalt verboten ist. Wo und womit die zwei- bis dreimonatige Wartezeit bis zum Erstinterview im Asylverfahren überbrücken? Und was tun, wenn die Erstinstanz das Ansuchen auf Asyl ablehnt, was bei 90 Prozent der Fälle vorkommt, das Verfahren in die zweite Instanz geht. Wieder warten? Wieder die Frage: Wo und wovon leben?

Diese Frage ist für die zwei Georgier, die jetzt mit einer Dolmetscherin das Büro der Heimleiterin betreten, vorerst beantwortet. Für die beiden ist fürs Erste einmal das Karwan Haus seinem Namen gerecht und eine Zuflucht geworden. Auch wenn es auf Grund der Überbelegung für viele momentan nicht mehr ist als eine "überdachte Parkbank". Einer der Männer ist 56 Jahre alt, der andere 50. Namen werden keine genannt, sie wollen anonym bleiben. Im ersten Moment, während die beiden sich vis-a-vis niedersetzen, wird eine zuvor beim Gespräch mit Greinöcker gefallene Aussage konkret: "Georgier, Russen sind keine Leute, die leicht von zu Hause weggehen. Die trennen sich schwer von der Heimat."

Blick auf Schubhaft

Über ihre Köpfe hinweg, beim Fenster hinaus und auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sieht man die Fenstergitter des Schubhaftgefängnisses. Ein Monat und 22 Tage hat der Ältere der beiden Georgier dort verbracht. Seit 23. Jänner ist er im Land. Bislang ist es noch zu keinem Erstinterview für sein Asylverfahren gekommen. Barbara Greinöcker bezweifelt, dass die kürzlich vom Innenministerium angekündigte Verkürzung des Asylverfahrens auf zwei, drei Tage durchführbar ist. Seit sie im Flüchtlingsbereich arbeitet, hört sie bereits das dritte Mal davon. Obwohl es heißt, dass aller guten Dinge drei seien, glaubt sie nicht, dass die jetzt projektierte Variante vor den Höchstrichtern bestehen kann: "Individuelle, weitgehende und gewissenhafte Prüfung braucht seine Zeit."

In der Zwischenzeit sind die Fragen an die Georgier gestellt, übersetzt, beantwortet, wieder übersetzt. Angefangen haben ihre Probleme, als sie sich der Obrigkeit widersetzten. Wobei nicht klar ist, wer im jeweils konkreten Fall diese Obrigkeit ist. Eine Definition dafür könnte jedenfalls lauten: "Diejenigen, die die Macht haben, dich und deine Familie zu töten." Der 56-Jährige, von Beruf Textilarbeiter, engagierte sich in der Opposition, protestierte gegen ungerechte Grundverkäufe an nur wenige Kilometer über der Grenze wohnende Türken. Das reichte. Seine Frau verlor den Arbeitsplatz, sein Sohn die Studienberechtigung, ihm drohte man mit dem Tod. Die Familie flüchtete zum Onkel in einen anderen Teil des Landes, er kroch in einen Lastwagen voller Stoffbahnen, fuhr bis nach Österreich.

Beim zweiten Georgier am Tisch scheiterte der erste Versuch nach Österreich zu gelangen. Beim zweiten Anlauf, pro Person zahlte der Geologe 100 Dollar, kamen er, seine Frau und seine Tochter über die tschechische Grenze ins Land. Das Erzählen fällt ihm nicht leicht: Seine Frau hat bei einem Fernsehsender gearbeitet. Beweismaterial über eine Vergewaltigung fiel in ihre Hände. Um die Familie nicht zu gefährden, behielt sie das Geheimnis für sich, versteckte die Beweise aber im Haus. In der Nacht kam ein Schlägertrupp, oder war es die Polizei? Das Ergebnis, die Schläge, die Drohungen, die Demütigungen waren die gleichen. Seit dieser Nacht wusste er, dass seine Familie Georgien verlassen musste. Innerhalb einer Woche waren sie weg. Doch auch in Österreich blieb die Angst. Vor allem davor, wieder zurück nach Tschechien abgeschoben zu werden. Für Österreich ist die Tschechische Republik ein sicherer Drittstaat. "Zurück an den Absender", lautet deswegen oft die Devise. Für den offensichtlich traumatisierten Georgier gilt Tschechien jedoch keinesfalls als sicher. "Die georgische Mafia ist schon dort, die streiten sich in Prag mit anderen kriminellen Organisationen um Vorrechte und Pfründe", schildert der Geologe seine Befürchtungen, seine konkrete Angst.

Und wird dabei von seinem Landsmann unterstützt. Der schließlich bei der Frage, wie korrupt die georgische Polizei denn sei, das Gespräch wieder gänzlich an sich reißt: "Die Polizei kann alles machen. Alles ist erlaubt. Die können einen Menschen so leicht verschwinden lassen, wie wenn einer ein Taschentuch in seinen Hosensack vergräbt!" Kein Mensch, kein Staat, keine Rechte können einen dann schützen, sind sich die beiden grauhaarigen Männer einig. Und seit wann ist das so? "Seit 1990 ist es immer schlimmer geworden!" Und gibt es Hoffnung auf Besserung der Lage, gibt es eine Opposition? "Nein, die Leute, die etwas Gutes machen wollten, sind mittlerweile alle umgebracht worden." Ein Blick in die Archive, scheint diese Schilderung der trostlosen Lage in Georgien zu bestätigen: Putsch, Bürgerkrieg, Notstandsmaßnahmen, Armee-Meuterei, Ausschreitungen...

Die Hoffnung stirbt

Barbara Greinöcker bekräftigt die Befürchtungen der beiden geschockten Kaukasier mit Erfahrungen aus dem Alltag im Karvan Haus, denn - wie gesagt - keine Ursache ohne Wirkung und bei jedem Reissack, der im Kaukasus umfällt, spürt man das Beben bis in die Blindengasse in Wien. Alle Sicherheitsmaßnahmen im Haus, eingeschränkter Besucherzugang, versperrte Türen, mehr Kontrollen, finden bei den Bewohnern des Caritas-Wohnheims ungeteilte Zustimmung, erzählt die Heimchefin. "Sie wollen klare Regeln, auch wenn sie sich oft sehr schwer tun, Grenzen zu akzeptieren. Kein Wunder bei Menschen, denen gegenüber auch so oft jede Grenze überschritten wurde." Mit der Schulpflicht eines Kindes, dem halbwegs geregelten Tagesablauf, dem Aufstehen-Müssen, fährt Greinöcker in ihrer Schilderung fort, "kann man eine ganze Familie sanieren". Die wollen nicht mehr über ihr Leid philosophieren, die wollen etwas tun, ist eine andere Erfahrung der Heimleiterin. Die Wende in Georgien ist mehr als zehn Jahre her, und es ist keine Besserung abzusehen. "Die Hoffnung stirbt", sagt Greinöcker beim Blick in die Augen der Bewohner des Karvan Hauses. "Diese Leute sind müde, die sind nicht einem Traum vom goldenen Westen gefolgt, die wollten, die mussten nur raus!"

Globalisierte Welt - nichts ist mehr für sich allein, alles gehört zusammen. Abschotten, Mauern ist da mit Sicherheit die falsche Strategie. Und das Zurückschicken und Abschieben in angeblich sichere Drittstaaten verlagert nur das Problem, löst es aber keineswegs. Da wäre es doch weitsichtiger und klüger, man versuchte mit allen Mitteln zu verhindern, dass der berüchtigte Reissack in Georgien und in den vielen anderen Nachfolgestaaten der UdSSR umfällt.

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