Kinder hinter GITTERN

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Im EU-Land Bulgarien suchten im vergangenen Jahr knapp 20.000 Menschen auf der Flucht um Asyl an. Doch nur 5700 von ihnen haben in den Flüchtlingslagern Platz.

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Im EU-Land Bulgarien suchten im vergangenen Jahr knapp 20.000 Menschen auf der Flucht um Asyl an. Doch nur 5700 von ihnen haben in den Flüchtlingslagern Platz.

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Vier Mal zerknülltes Papier auf einer ausgestreckten Hand. Namen sind darauf zu sehen, sechsstellige Nummern und Passbilder in Schwarzweiß. Zelal hält die fünf mal zehn Zentimeter großen Ersatzdokumente so behutsam wie nur möglich. Die vier Identitäten auf Papier sind ihre Familienmitglieder, oder besser, die Daten jener Verwandten, die noch leben. Nur zögerlich beginnt die Jesidin aus dem Nordirak mit dem Erzählen: Zwei Familienmitglieder seien noch daheim ermordet worden, ihr jüngstes Kind auf der Flucht gestorben. Wo genau? Zelal schweigt und dreht sich weg. Vor Monaten kam die junge Frau, die eigentlich nach Deutschland zu Verwandten wollte, nach Bulgarien. Jetzt lebt sie mit 400 anderen Geflohenen in einem Gefängnis nahe der bulgarischen Hauptstadt Sofia.

"Erniedrigt, misshandelt, schutzlos"

Zelal ist eine von 19.055 Personen, die im vergangenen Jahr 2016 in Bulgarien als Flüchtlinge registriert worden sind. Mit 8827 dokumentierten Geflohenen stellen Menschen aus Afghanistan die zahlenmäßig größte Gruppen dar, gefolgt von Flüchtlingen aus dem Irak (5348), Syrien (2639), Pakistan (1790) und dem Iran (451). Wohl kaum jemand unter diesen Menschen hatte vor, im ärmsten Land in der EU zu bleiben, denn Bulgarien hat unter Schutzsuchenden keinen guten Ruf. "Erniedrigt, misshandelt, schutzlos" - unter diesem Titel veröffentlicht der Verein Pro Asyl im Jahr 2015 einen Bericht, der auf 52 Seiten beschreibt, wie das ärmste EU-Mitgliedsland mit Flüchtlingen verfährt. Katastrophale Hygiene-Zustände, mit Ungeziefer verunreinigtes Essen, Bissverletzungen durch Polizeihunde oder Schläge durch die Grenzpolizei sind nur einige Anschuldigungen, die sich der Balkanstaat im Bereich Flüchtlingspolitik gefallen lassen muss.

Die Praxis, Geflohene nicht in Flüchtlingslager zu bringen, sondern sie zu inhaftieren, wird in Bulgarien seit mindestens sechs Jahren gelebt. Bereits im November 2011 erhob das Bulgarische Helsinki-Komitee (BHC) den Vorwurf, Asylsuchende würden in Verletzung der nationalen Gesetzgebung und der EU-Asylverfahrensrichtlinie von den bulgarischen Behörden in Haft gehalten. An die 1000 Asylsuchende befanden sich laut der unabhängigen Hilfsorganisation 2011 in bulgarischen Haftlagern wie in Busmantsi nahe Sofia oder im Gefangenenlager Ljubimets im türkisch-griechischen Grenzgebiet. Laut Amnesty-Jahresbericht 2012 erklärte der damalige Direktor der staatlichen Flüchtlingsbehörde State Agency for Refugees (SAR), dass die Praxis, Flüchtlinge zu inhaftieren, aufgrund der überlasteten Unterbringungsmöglichkeiten in den offenen Lagern entstanden sei. "Bulgarien verfüge nicht über die institutionellen Möglichkeiten, um die Grundvoraussetzungen für die Aufnahme von Asylsuchenden zu erfüllen", steht weiter im Bericht.

Doch die Menschenrechtsverstöße nehmen schon viel früher ihren Anfang, bereits an den Grenzen zu Griechenland und zur Türkei. Anfang Jänner diesen Jahres erfroren dort in einem Wald im Grenzgebiet zwei Männer auf der Flucht.

Menschenrechtsverletzungen

Eine Woche zuvor war unweit davon eine Somalierin tot aufgefunden worden. Und 2015 kamen Geflüchtete im bitterkalten bulgarischen Winter um. Zwei Väter etwa, auf der Suche nach Essbarem für ihre Familien. Grenzbeamte hatten ihnen und zwölf weiteren Geflohenen zuvor den Unterschlupf verwehrt. 14 Menschen wurden in den Schnee geschickt, und nach dem Tod der beiden Männer erlag wenige Tage später auch eine Mutter aus der Gruppe ihren Erfrierungen in einem Spital. Meterhohe Zäune, ungeschultes Wachpersonal und ein strenger Winter lassen die Flucht noch grausamer werden -in einem Land, in dem gut ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Viele Geflohene wissen das, müssen aber nach Schließung der Westbalkanroute dennoch die bulgarischen Grenzen passieren, um weiter Richtung Norden zu gelangen. "Bulgarien war für Flüchtlinge immer ein Transitland, und kein Zielland", weiß Iliana Savova, die seit gut zwanzig Jahren als Menschenrechts-Anwältin beim Bulgarischen Helsinki-Komitee Hilfesuchende vertritt (siehe Interview). Eine erste Flüchtlingswelle verzeichnete man in Bulgarien bereits in den Jahren 2012 und 2013. Binnen weniger Monate kamen damals 12.000 Geflüchtete hierher, weiß Savova. Zeltstädte wurden errichtet, doch die Flüchtlingsströme wuchsen und erreichten mit 20.391 gestellten Asylanträgen einen neuen Höhepunkt im Jahr 2015. Mit den steigenden Zahlen wachsen auch die von Parteien und der orthodoxen Kirche geschürten Ressentiments in der Bevölkerung - vor allem gegenüber jungen Männern auf der Flucht. Immer wieder tauchen rechte Gruppierungen vor den Flüchtlingslagern auf und werden aggressiv. Im Herbst 2016 wird eine schwangere Frau verprügelt. Das überalterte und schlecht bezahlte Wachpersonal ist überfordert und schreitet bei Übergriffen oft gar nicht ein.

Unbegleitete Kinder immer jünger

Im Internierungslager Busmantsi hingegen herrscht Bewegungslosigkeit. Ob Erwachsene oder Kinder -niemand hier darf länger als eine Stunde täglich das Gebäude verlassen und in den mit Müll verschmutzten Hof. Die restliche Zeit warten Menschen in völlig überfüllten Räumen, drängen Kinder sich an Gitterstäbe, von denen Wäsche zum Trocknen baumelt. Von Rechts wegen dürften sie hier gar nicht sein, gesteht die stellvertretende Lagerleiterin ein. Zumindest nicht die unbegleiteten Minderjährigen auf der Flucht. Doch was tun, wenn Unter-18-Jährige beim erneuten Versuch, über die serbische Grenze zu flüchten, aufgegriffen werden und man sie hierher bringt? Eigene Unterkünfte für minderjährige Schutzbefohlene gibt es in Bulgarien nicht. In den offenen Lagern sind unbegleitete Flüchtlingskinder zwar in separaten Schlafräumen untergebracht, was aber kein Kind vor Übergriffen durch fremde Erwachsene schützt. Noch mehr Gefahren, so die Beamtin, lauern für Kinder außerhalb der Lager. "Oft werben Schlepper die unbegleiteten Minderjährigen für ihre Dienste an", erzählt Ivan Cheresharov von der Caritas Sofia, wo man sich in einem breit angelegten Hilfsprojekt um Menschen in den Lagern kümmert. "Wer einem Schlepper fünf neue Kunden bringt, wird selber gratis transportiert." Noch schlimmere Vermittlungsgeschäfte gebe es im Bereich der Prostitution, erzählt die stellvertretende Lagerleiterin in Busmantsi. Sie wisse von zumindest einem Minderjährigen, der sich hier im Lager für Geld verkaufen würde, wenngleich: Das geschehe ihrer Ansicht nach "wohl eher freiwillig".

Kindheit unterm Stacheldraht

Ein Rechteck, darauf ein Dreieck, drumherum ein Zaun. Wenn Zoe Holliday und Diana Nedeva den kalten Fließenboden mit Papierrolle auslegen und Buntstifte verteilen, lassen sich die Kinder im Lager Busmantsi nicht lange bitten und fangen an zu zeichnen. Seit Kurzem erst haben die Leiterin eines Internationalen Freiwilligenprojekts und die Caritas-Mitarbeiterin erreicht, dass sie zwei Stunden pro Tag mit den hier untergebrachten Flüchtlingskindern lernen und spielen dürfen. "Play schools" wie diese sind für die Kinder bitter nötig: Zum einen, weil sie Abwechslung bedeuten im tristen Flüchtlingsalltag. Zum anderen, um Kinder wieder an Strukturen zu gewöhnen, die sie auf ihrer langen Flucht vergessen haben. Rahman ist einer der eifrigsten an diesem Nachmittag. Schneller als die anderen hat der Elfjährige seinen Aufenthaltsort auf Papier gemalt: ein Haus mit Schornstein, eine Mauer mit Stacheldraht. Den sieht er jeden Tag im Hof, wenn er dort für eine knappe Stunde täglich unter freiem Himmel spielt.

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