Ibrahim, Björn und die Flucht nach oben

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Gemessen an der Bevölkerungszahl hat Schweden bislang die meisten Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union aufgenommen. Wie kommt der skandinavische Parade-Wohlfahrtsstaat damit zurecht? Eine Reportage über Asylpolitik und Integration in Blau-Gelb.

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Gemessen an der Bevölkerungszahl hat Schweden bislang die meisten Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union aufgenommen. Wie kommt der skandinavische Parade-Wohlfahrtsstaat damit zurecht? Eine Reportage über Asylpolitik und Integration in Blau-Gelb.

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In Syrien hätte Ibrahim der Militärdienst gedroht, die Gültigkeit seines Passes konnte nicht verlängert werden. Vor 14 Monaten ist er deshalb mit seiner Frau Satanay nach Schweden geflohen - wie bisher rund 15.000 Syrerinnen und Syrer. Insgesamt 48.000 Schutzsuchende hat Schweden bis dato aufgenommen, hochgerechnet auf die Zahl der Einwohner die meisten innerhalb der Europäischen Union.

In der teuren Hauptstadt Stockholm waren bislang freilich kaum Veränderungen zu merken. Meist wurden die Flüchtlinge in ungenutzten Gebäuden an der Peripherie untergebracht. Doch in den vergangenen zwei Wochen hat sich die öffentliche Wahrnehmung gewandelt. 15.000 Menschen haben sich vorvergangenen Sonntag in einem Meer aus Regenschirmen am Stockholmer Medborgerplatsen (Bürgerplatz) zur "Refugees-Welcome"-Demonstration versammelt. "Schweden wird weiterhin seine Verantwortung wahrnehmen", erklärte der sozialdemokratische Premierminister Stefan Löfven bei der Kundgebung. "Aber das reicht nicht mehr aus. Ganz Europa muss mehr tun. Es braucht ein verpflichtendes und permanentes Umverteilungssystem." Am Morgen darauf listete er zehn Standpunkte für eine Europäische Flüchtlingsreform und reiste damit am Dienstag zur deutschen Kanzlerin, bevor er den österreichischen Kanzler Werner Faymann in Stockholm empfing.

Polarisierte Gesellschaft

Seither hat sich die Lage freilich dramatisch zugespitzt. Zugleich nimmt - wie in den meisten europäischen Ländern -die gesellschaftliche Polarisierung zu. Die nationalistischen Schwedendemokraten kamen in den letzten Umfragen auf 18 Prozent, was ein Plus von fünf Prozent innerhalb eines Jahres bedeutet. Andererseits unterstützt ein Großteil der Schweden die Zuwanderung: In Umfragen geben zwei Drittel an, sie seien bereit, Flüchtlingen zu helfen.

Wobei die meisten darunter vor allem Kleider- oder Geldspenden verstehen, die sie etwa am Stockholmer Bahnhof deponieren. Im Vergleich zur Situation in München oder Wien ist die Lage hier aber vergleichsweise überschaubar. Daphne, eine junge Modejournalistin, stapelt gemeinsam mit anderen in einem Seitentrakt des riesigen Bahnhofkomplexes Jausenbrote auf drei Tischen. "Was brauchen die Flüchtlinge?", wollen Freiwillige von ihr wissen. Daphne kennt die Grundbedürfnisse: Wasserflaschen, Schmerztabletten, Deo, Zahnpasta. "Ich sage immer: Denkt daran, was ihr braucht, um euch gut und frisch zu fühlen. Flüchtlinge kommen ja nicht von einem anderen Planeten."

Draußen vor dem Bahnhofseingang tummeln sich derweil die Gratiszeitungsverteiler. Den Umschlag der Metro-Zeitung ziert doppelseitig die gelb-blaue Schweden-Flagge und der Schriftzug "Välkomna till Sverige" - Willkommen in Schweden. Die gesamte Ausgabe ist dem Flüchtlingsthema gewidmet, in der Heftmitte finden sich 59 Willkommenswünsche der Stockholmer Bevölkerung. Auch vom Vorzeigeprojekt "Kompis Sverige" ist hier die Rede. Das Buddyprogramm organisiert Treffen zwischen Flüchtlingen und Schweden durch Interessens-Matching: Menschen mit ähnlichen Hintergründen sollen einander kennenlernen - egal, wo sie aufgewachsen sind.

Auch Ibrahim und seine Frau Satanay haben sich hier angemeldet. Am Matching-Tag treffen sie erstmals auf ihren "Kompis", den schwedischen Freund, mit dem sie zumindest im nächsten halben Jahr immer wieder einmal etwas unternehmen werden. Am Donnerstag steht Kajakfahren auf dem Programm, doch zuerst lernen sich die Freunde in spe im Aufenthaltsraum einer Rot-Kreuz-Station bei der "Fika" kennen, dem traditionellen schwedischen Kaffeekränzchen. Unter einem Pop-Art-Plakat von Nelson Mandela plaudert die Layout-Designerin Satanay angeregt mit der Bildhauerin Marie. Sie schmieden schon gemeinsame Pläne für Slow Motion Videos mit Keramikfiguren, während sich nebenbei auch Satanays Schwedischkenntnisse verbessern. Ibrahims Freund soll Björn werden, ein Journalist beim schwedischen Boulevard-Blatt Expressen. "Ich bin für ein offenes Schweden der unterschiedlichen Kulturen, aber eigentlich habe ich nur schwedische Freunde", gesteht er. "Das finde ich schade." Warum die beiden Männer als "Kompis" ausgewählt wurden, liegt auf der Hand: Wie Björn hat auch Ibrahim als Journalist gearbeitet, er war als Dokumentarfilmer in Dubai unterwegs. Von dort war die Reise nach Syrien einfach, aber Satanays Brüder mussten den lebensgefährlichen Seeweg in überfüllten Flüchtlingsbooten auf sich nehmen.

Warum Asylsuchende nicht einfach in ein Flugzeug steigen können, hat Hans Rosling, Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institut in Stockholm, in einem seiner tausendfach angeklickten Kurzvideos erklärt. Das Problem sei die EU-Direktive 2001/51/EC, so Rosling: Sie verpflichtet Fluglinien und Schifffahrtsunternehmen, welche Menschen ohne gültiges Visum in ein EU-Land transportieren, etwaige Kosten für deren Rücktransport zu übernehmen. Damit stiehlt sich die Europäische Kommission aus der Verantwortung und delegiert sie an das Personal am Check-In-Schalter.

Jakop Dalunde, Parlaments-Abgeordneter der Grünen, die in Schweden gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Regierung stellen, plädiert für offene Grenzen, hält aber einen alternativen Mittelweg für wahrscheinlicher: Mit einem Visum im Herkunftsland soll man auf legalem Weg flüchten können, um im Zielland um Asyl anzusuchen. Ideen kommen auch aus der Zivilgesellschaft: Vergangenes Wochenende wurde etwa die Initiative "Refugee Air" ins Leben gerufen. Die Kooperation mit Fluggesellschaften soll Flüchtlingen einen sicheren Luftweg eröffnen.

Ankunft im Wohlfahrtsstaat. Und dann?

Der Zivilgesellschaft wird das Helfen einfach gemacht. Viele Privatpersonen nehmen selbst Flüchtlinge bei sich auf, weil es unbürokratisch ist und von staatlicher Hand finanziell unterstützt wird. Zudem ist vielen Schweden bewusst, dass Zuwanderung auch einen Zugewinn an wichtigen Arbeitskräften bedeuten kann. Das bestätigt der Diplomat Lars-Erik Lundin vom Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): "Ein Viertel unserer Ärzte sind Einwanderer. Wir können uns über Arbeitskräftezuwachs freuen. Uns abzuschotten können wir uns schlichtweg nicht leisten", ist er überzeugt.

Doch laut schwedischer Arbeitsagentur dauert es durchschnittlich sieben bis neun Jahre, bis ein anerkannter Flüchtling Arbeit findet. "Die wahre Herausforderung liegt also in der Integration", sagt Jakop Dalunde, der ebenfalls zum Stockholmer Bahnhof gekommen ist, um zu helfen. In peripheren Gebieten sei es fast unmöglich, einen passenden Job zu finden. Damit steigt nicht nur die Gefahr, dass am sozialen Rand eine Parallelgesellschaft entsteht - auch große Chancen für Schweden selbst sind verloren. Wie man die Aufgenommenen in Gesellschaft und Arbeitswelt eingliedern kann, dafür fehlt also noch das Konzept. Aber zumindest den Willen dazu gibt es - und Projekte wie "Kompis Sverige", deren Wunderwaffe die Begegnung ist.

Dieser Artikel entstand im Rahmen von "eurotours 2015", einem Projekt des Bundespressedienstes im Bundeskanzleramt.

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