Eine Frau, ein Telefon und TAUSEND SCHLEPPER

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Wenn Flüchtlinge aus Eritrea im Mittelmeer zu ertrinken drohen, rufen sie Meron Estefanos in Stockholm an. Sie kümmert sich um Hilfe. 16.000 Menschen hat sie heuer auf diese Weise das Leben gerettet.

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Wenn Flüchtlinge aus Eritrea im Mittelmeer zu ertrinken drohen, rufen sie Meron Estefanos in Stockholm an. Sie kümmert sich um Hilfe. 16.000 Menschen hat sie heuer auf diese Weise das Leben gerettet.

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Es war an einem Tag im Jahr 2010, als die Frau mit den roten Fingernägeln zum ersten Mal einen dieser Anrufe erhielt. Sie stand gerade in ihrer Küche in Stockholm, und ihr weißes Handy läutete. 00888. Mit diesen fünf Zahlen begann die Nummer. Als die Frau abhob, peitschten ihr Schreie entgegen. Es waren Schreie von Kindern, Frauen und von Männern. Es waren 425 Eritreer, und jeder schrie um sein Leben. Sie trieben am Mittelmeer, das Schiff war leck, das Wasser stieg. Einer der Passagiere hatte die Telefonnummer von Meron Estefanos bei sich gehabt und die 13 Ziffern in das Satellitenhandy eingetippt, jenes Handy, das Schlepper den Flüchtlingen üblicherweise für Notfälle mitgeben. Und genau das war der Moment, in dem das Handy der damals 35-Jährigen läutete. "Die Menschen schrien ins Telefon: Wir sterben! Unser Leben ist in deiner Hand, tu was!" erzählt Estefanos.

Jetzt sitzt sie auf einem Plastikstuhl in ihrer kleinen Küche, dort, wo sie damals den Anruf erhalten hatte. "Ich war überfordert. Zuerst rief ich die italienischen Behörden an. Dort hieß es: Rufen Sie Malta an! Die sagten mir: Rufen Sie Italien an!" Sieben Stunden vergingen, bis die 425 Eritreer wussten, dass sie überleben würden; es war die italienische Küstenwache, die sie schließlich rettete.

Für ihre Landsleute war es das Ende einer langen Flucht, doch für Estefanos war es erst der Beginn ihrer Bekanntschaft mit der Zahlenfolge 00888, mit denen Anrufe von einem Satellitentelefon aus dem Mittelmeer beginnen. Denn die Geschichte machte unter Eritreern schnell die Runde, worauf sie immer mehr Anrufe von Menschen in Seenot erhielt. Und mittlerweile stellen viele, die aus Eritrea fliehen, vor allem eines sicher - die 13-stellige schwedische Telefonnummer von Estefanos bei sich zu haben.

Das "dumme" Telefon

Sie selbst hat Eritrea schon als Kind verlassen, bequem im Flugzeug nach Stockholm, wo ihr Vater gute Arbeit gefunden hatte. Das war vor 28 Jahren. Doch Folter, Unterdrückung und Armut in ihrer alten Heimat erzeugen Flüchtlinge im Akkord, das bekommt sie täglich über ihr Handy im fernen Schweden zu hören. Allein von Mittelmeer-Flüchtlingen habe sie heuer in nur drei Monaten 50 Anrufe erhalten. Dass sie damit schätzungsweise 16.000 Eritreern in Seenot das Leben gerettet hat, erwähnt sie nicht; für Berechnungen dieser Art fehle ihr das Interesse.

Und wieder läutet das Handy. Alle paar Minuten vibriert es. Scheinbar untrennbar sind Estefanos und ihr Handy miteinander verbunden. "Du dummes, dummes Telefon!" hatte es kürzlich ihr kleiner Sohn angefaucht. Er habe ja recht, meint die Alleinerzieherin, familienkompatibel sei es nicht. Nur: Wenn sie mit einem Anruf so viele Leben retten könne?

Eigentlich arbeitet die 40-Jährige als Radiojournalistin für den in Paris stationierten Sender Erena. Als Aufnahmestudio dient ihre Küche. Dort geht sie jeden Donnerstag mit der Sendung Voices of Eritrean Refugees on air. Sie lässt ihre Landsleute zu Wort kommen, erzählt Geschichten von welchen, die es in den Westen geschafft haben, aber auch von denen, die im Mittelmeer ertrunken sind. Derweil sitzen 5200 Kilometer von ihr entfernt Frauen und Männer in Eritrea vor ihren Radiogeräten; im Geheimen, denn das eritreische Regime duldet keine kritischen Stimmen. Laut der US-NGO Committee to Protect Journalists ist Eritrea derzeit meistzensierte Staat der Welt.

Das "Nordkorea Afrikas", so wird Eritrea oft genannt. Seit der Unabhängigkeit von Äthiopien 1993 regiert Präsident Isaias Afewerki (69) das abgeschottete Land am Roten Meer. Zu Beginn war er gefeierter Nationalheld, heute ist er Diktator, der Eritrea mit "gnadenloser Repression" regiere und Menschenrechtsverletzungen begehe "in einem Ausmaß und einer Dimension, selten anderswo in dieser Form gesehen", wie es die UN in ihrem aktuellen Bericht Juni 2015 formulierte. Hinrichtungen von Regimegegnern, Folter in Gefängnissen, dazu Massenüberwachung, Spitzelwesen und Armut machen für viele den Alltag kaum ertragbar. Doch das Hauptmotiv für den Massenexodus aus Eritrea ist der sogenannte National Service: Unter dieser Bezeichnung zieht das Regime Frauen und Männer zwischen 18 und 50 verpflichtend zu Militärdienst und Zwangsarbeit ein - auf unbestimmte Dauer. Durch diese staatlich gelenkte Zuteilung der Bevölkerung für "Dienste an der Nation" will man - so das offizielle Narrativ - die militärische Stärke sowie die wirtschaftliche Autarkie des Landes garantieren.

In die Sklaverei

Die UN bezeichnet es indes als Einrichtung "mit sklavereiähnlichen Praktiken", welcher der jungen Generation jegliche freie Lebensgestaltung versagt. Um dem zu entkommen, machen sich derzeit rund 5000 Eritreer monatlich auf die Flucht; trotz des Wissens, an der Grenze wegen Landesverrats erschossen werden zu können. Schaffen sie es hingegen in den Sudan weiter nach Libyen, wartet dort das nächste russische Roulette auf sie: die Mittelmeerüberfahrt. Und hier schließt sich der Kreis mit Estefanos und ihrem Handy.

Doch manchmal schließt sich der Kreis auch schon vorher. Der Gestank verbrannter Haare. Schmelzendes Plastik auf offenem Menschenfleisch. Vergewaltigte Frauen, daneben Kinder an Eisengestängen. Das sind die berüchtigten Folterlager für eritreische Flüchtlinge. Vor etwa vier Jahren kamen erstmals Schlagzeilen in westliche Medien, die über die Praxis von Kidnapper-Banden berichteten, (vorwiegend) Eritreer auf ihrer Flucht zu entführen und sie in Folterlager am Sinai zu verschleppen. Es geht ums Geld: Von den Verwandten der Flüchtlinge erpressen sie hohe Lösegelder, und die Folter ist ihr wirksamstes Instrument.

Vor kurzem haben sich diese Torture Camps Richtung Sudan und Libyen verlegt, doch die Täter sind oft die gleichen. Wie viele Flüchtlinge dort sind? Zahlen hat Estefanos keine. Es müssen jedoch viele sein, meint sie, denn in jedem Lager seien mehr als einhundert Leute interniert, und die Anrufe von dort reißen nicht ab.

Ein menschliches Geschenk

"Geschenk Gottes" - das bedeutet Estefanos Vorname Meron, und genau das ist sie für viele in den Lagern: Sie verhandelt mit den Entführern am Telefon, hilft beim Organisieren der Lösegelder, tröstet Angehörige. Ihr Büro ist ihre Küche in Stockholm, ihre Überzeugungskraft am Telefon ihre Waffe. Oft, sagt sie, nehme es ihr den Atem. "Du glaubst, es kann nicht schlimmer kommen, und dann ist die nächste Geschichte noch grausamer als die vorhergehende."

Jeden einzelnen Menschenhändler, der damit Geld mache, sagt sie wütend, werde sie vor Gericht bringen. Sie sammle Beweismaterial, mache Mitschnitte der Telefongespräche, führe Protokoll über die Lösegelder. "Wenn du in Schweden eine Katze tötest, kommst du ins Gefängnis. Ich höre währenddessen die Geschichten von Flüchtlingen, die stündlich gefoltert werden. Und die ganze Welt schaut zu."

Diesen Satz sagte sie 2013 in einem israelischen Dokumentarfilm über die Folterlager auf der Halbinsel Sinai. Wieviele Menschenhändler hat sie seither vor Gericht gebracht? "Keinen!" sagt Estefanos trotzig. "Aber der Tag der Gerechtigkeit wird kommen."

Es läutet an der Tür. Ihre zwei Söhne, der 14-jährige Christian und der 6-jährige Nathan, sind aus der Schule zurück. Estefanos ernstes Gesicht verwandelt sich in scheinbar unbeschwerte Heiterkeit. Die 40-Jährige lässt sich umarmen, scherzt mit den Buben auf Schwedisch, beutelt dann herzhaft lachend die Turnschuhe ihres Jüngsten über dem Mistkübel aus: "Jeden Tag hat er vom Spielplatz diese Ladung Kiesel in den Schuhen! Ist das nicht unglaublich?"

Und in diesen Momenten sind Folter und Flucht auf einmal unendlich weit weg.

Österreich

4300 in Traiskirchen

Das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen hat eine neue Rekorzahl bei der Belegung zu vermelden: An die 4300 Flüchtlinge waren am Montag auf dem Areal untergebracht, bestätigte das Innenministerium gegenüber der APA. Betten stehen in Traiskirchen derzeit für lediglich 2300 Asylwerber zur Verfügung, davon 480 in bereits errichteten Zelten. Alle Flüchtlinge, die sich derzeit in Traiskirchen aufhalten, werden versorgt, so das Innenministerium. Dennoch würden für rund 2000 Personen keine Betten zur Verfügung stehen. Italien stellt unterdessen 26 Millionen Euro für eine dreimonatige Beteiligung seiner Militärs an der EU-Mission "Eunavfor Med" zur Bekämpfung der Schlepperbanden vor der libyschen Küste zur Verfügung. Das Hauptquartier der Mission wurde in einem Militärflughafen in Rom eingerichtet. Dabei werden Luftund Satellitenbilder ausgewertet. Neben Schiffen sollen auch Flugzeuge, Hubschrauber, Drohnen und U-Boote zum Einsatz kommen. Später soll das Militär gegen Boote der Schlepper vorgehen und sie fahruntüchtig machen. (red)

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