Auf Europas Insel der Flüchtlinge

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Lampedusa, am äußersten Rand der EU gelegen, wird zu einem Symbol für die nicht funktionierende Einwanderungspolitik Europas. Ein Lokalaugenschein.

Mallorca, Sardinien oder Korsika: An Inseln, deren Ruf einer Legende gleichkommt, hat das Mittelmeer keinen Mangel. Die meisten Schlagzeilen aber produziert seit Jahresbeginn wieder einmal Lampedusa, ein winziges, karges Eiland von gerade einmal zwanzig Quadratmetern, näher an Tunis denn an Sizilien gelegen und bekannt eigentlich nur aus einem Grund: die rund 30.000 Bootsflüchtlinge aus Nordafrika, die seit Februar dort ankamen.

Bis April brachen sie vor allem aus tunesischen Häfen auf. Seit einem neuen Rücknahmeabkommen zwischen den Regierungen in Tunis und Rom stechen die meisten an der libyschen Küste in See. Die Passagiere kommen aus den Ländern südlich der Sahara, aber auch aus Pakistan oder Bangladesch. Erstere sind Flüchtlinge, die das Gaddafi-Regime gemäß seiner Absprachen mit der EU bislang abfing, letztere Gastarbeiter, von ihren Firmen vor die Tür gesetzt und in den Wirren des Kriegs in Libyen gestrandet.

Die Flüchtlingsdrehscheibe

500 neue Migranten, heißt es auf der Insel, könnten pro Landung aufgefangen werden. Die Notunterkunft fasst 850 Personen, bei großem Andrang greift man zudem vorübergehend auf eine alte Kaserne im unbewohnten Inselinneren zurück. Alle paar Tage legen gigantische Fähren ab, die 1000 oder mehr Flüchtlinge in weitere Lager auf Sizilien oder auf dem Festland bringen.

Lampedusa, permanenter Aufenthaltsort von gerade einmal 4000 Menschen, ist seit Monaten eine Drehscheibe frappierenden Ausmaßes. Immer wieder gerät dieses Durchlaufsystem an den Rand seiner Kapazitäten. Am zweiten Maiwochenende landeten 2000 Migranten. Weil beide Lager voll waren, mussten die letzten 800 ihre erste Nacht in Europa direkt am Hafen verbringen. Vergangenes Wochenende legten 1700 an - binnen 24 Stunden.

Schon 2008 und 2009 war Lampedusa Ziel zahlreicher Boote aus Libyen. Sie kamen regelmäßiger als heute, waren aber kleiner und brachten somit weniger Passagiere. Historisch ist nicht nur der arabische Frühling, historisch sind auch die Zahlen an Flüchtlingen, die er über das Mittelmeer treibt. Lampedusa ist der Ort in Europa, an dem die Geschichte ein Gesicht bekommt.

Nicht nur für Flüchtlinge ist die Insel als nächstgelegener europäischer Hafen symbolisch, sondern auch für die EU. In Bezug auf das gleichsam historische Projekt einer gemeinsamen Asylpolitik kommt Lampedusa einem Lackmustest gleich. Wie ernst ist es den Mitgliedsstaaten mit diesem Vorhaben? Besondere Brisanz bekommt die Frage durch die ohnehin kritische Phase, in der die Harmonisierungspläne seit geraumer Zeit verkehren.

Schon vor der jüngsten Welle von Bootsflüchtlingen zeigte sich Einigkeit bestenfalls auf dem Papier. Dublin-II-Regime und das EURODAC- Register fungieren als Schutzwall, für die politischen und geografischen Kernländer Frankreich und Deutschland, für Großbritannien, das seit jeher bei Migranten hoch im Kurs liegt, aber auch für Binnenstaaten mit hohem Lebensstandard wie Österreich. Mit der Regel, dass Flüchtlinge nur dort Asyl beantragen können, wo sie die Union betraten, wälzen sie die Zuständigkeit auf die Mitglieder am Rand ab. Selbst haarsträubende humanitäre Situationen wie in den letzten Jahren in Griechenland bewirken kein Umdenken und erst recht keine Vereinheitlichung der Asyl-Standards.

Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, wie die Union auf den kontinuierlichen Zustrom von Booten reagiert. Nicht nur, dass andere Mitgliedsstaaten, vorneweg Frankreich und Deutschland, die Aufnahme der Passagiere ablehnten. In mehreren Ländern denkt man zudem laut über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nach, Dänemark kündigte vergangene Woche bereits ihre Einführung an.

Dass Europa sich anschickt, die Folgen der demokratischen Umstürze in der arabischen Welt mit Repression zu beantworten, lässt sich anhand dreier Schritte nachvollziehen. Zunächst war da Mitte April der Streit zwischen Rom und Paris um die tunesischen Flüchtlinge bei Ventimiglia, als Frankreich vorübergehend seine Grenze schloss. Aufgelöst wurde er Ende des Monats in einer gemeinsamen Forderung, den Schengener Vertrag auszusetzen - zum Unwillen der EU-Kommission. Seit Anfang Mai indes zieht auch das höchste Gremium eine "Reform“ des Abkommens offiziell in Erwägung (siehe Kasten). Offensichtlich ist, dass Libyen seit Ausbruch des Kriegs die Flüchtlinge bewusst als Bumerang nach Europa schickt. Manche, die auf Lampedusa ankommen, berichten, sie wurden von Soldaten mit vorgehaltener Waffe auf die maroden Boote gezwungen. Helfer auf Lampedusa gehen von 50.000 aus, die in Libyen zum Aufbruch bereit sind.

Nähe zu Tripolis

Nicht nur der Flüchtlinge wegen weiß man auf Lampedusa, wie es sich in der Nähe Libyens lebt. Nachdem die USA 1986 Tripolis und Bengasi bombardiert hatten, schoss das Regime drei Raketen in Richtung der Insel ab. Sie stürzten ins Meer.

Die Bewohner erinnern sich trotzdem noch heute daran, wie alles auf ihrem Eiland erzitterte. Es gibt noch einen weiteren Punkt, in dem Lampedusa, die äußerste Peripherie Italiens und Europas, am Puls der Zeit liegt: das Schicksal jener Verzweifelten, deren Boote es nicht ans andere Ufer des Mittelmeers schaffen. Gerade in der letzten Woche verschärfte sich die Diskussion um Hilfe, die Anrainer und NATO Schiffen in kritischer Lage zukommen lassen - oder eben nicht. Die UN, mit ihrem Hohen Flüchtlingskommissariat seit Februar ständig auf Lampedusa vertreten, gehen davon aus, dass seit Kriegsausbruch in Libyen 1200 Menschen den Versuch, Europa zu erreichen, mit dem Leben bezahlten.

Die meisten dieser Dramen finden auf offener See statt. Anfang Mai jedoch havarierte ein Boot, das seit fünf Tagen unterwegs war und keine Wasservorräte mehr hatte, auf den Klippen unmittelbar vor der Insel. Viele Passagiere wurden über Bord gespült, andere sprangen in Panik hinterher. Bei der Bergung des Wracks entdeckte man drei Leichen unter dem Rumpf. Letzte Woche wurden sie vom Inselpfarrer beerdigt.

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