Lampedusa: Die Insel, das Meer und der Tod

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Lampedusa ist das Zentrum des europäischen Flüchtlingsdramas. Wie gehen seine Bewohner damit um? Auszug einer literarischen Reise.

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Lampedusa ist das Zentrum des europäischen Flüchtlingsdramas. Wie gehen seine Bewohner damit um? Auszug einer literarischen Reise.

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Die Kirche Lampedusas ist ein großer, schlichter Bau, der von außen betrachtet trutzig aussieht, wie einer dieser Wachttürme, die an den Küsten Italiens errichtet wurden, um die Piraten abzuwehren. Im Inneren ist die Kirche luftig und hell. Bar jeder überflüssigen Ornamentik ist sie auf das Wesentliche reduziert. In den vorderen Kirchenbänken sehe ich zwei Frauen. Sie sitzen da, schauen auf den Altar und tauschen flüsternd ein paar Worte aus. Sonst sind keine Menschen hier. Als am 3. Oktober 2013 fast 400 Flüchtlinge vor Lampedusa ertranken, da las der Priester hier eine Messe, und die Kirche war brechend voll. Sie ist der Ort, an dem man sich versammelt, wenn ein Unglück geschieht oder wenn Gefahr droht. Es gibt eine ganze Reihe von Geschichten, die belegen, wie an den italienischen Küsten Frauen und Kinder in die Kirchen flüchteten, während die kampffähigen Männer versuchten, die angreifenden Piraten abzuwehren. Es gab Kirchen voller Menschen, die lichterloh brannten, es drangen verzweifelte Schreie aus ihnen, doch niemand kam, um ihnen zu helfen, weil alle, die helfen konnten, schon tot waren, gefallen im Kampf mit den Piraten; es gibt Kirchen an den italienischen Küsten, die verwüstet und leer zurückblieben, weil alle verschleppt worden waren, die sich hierher zurückgezogen hatten und nun auf dem Weg zu den Sklavenmärkten des Mittelmeeres waren, wo sie verkauft werden sollten. Und es gibt Kirchen wie die von Lampedusa, in der sich Hunderte Einwohner des Dorfes versammeln, um für Unbekannte zu beten, die vor dem weißen Sandstrand der Insel ertrunken sind.

Das Floß auf dem Meer

An der linken Seitenwand, gleich neben dem Haupteingang, ist auf etwa zwei Metern Höhe das Bild von Andrea Anfosso gemalt, wie er auf dem rudimentären, an einen Einbaum erinnernden Floß kniend das Tuch mit dem Abbild der Muttergottes und des Jesuskindes in die Höhe hält und in sein heimatliches Ligurien segelt, wo er sicher ankommen wird. Das Meer auf diesem Bild greift mit nassen Armen nach dem Floß Anfossos, und mir scheint, als spiegelte der Ausdruck auf seinem Gesicht weniger die Hoffnung auf Erlösung oder den festen Glauben an die Muttergottes, sondern eher Verzweiflung und Angst. Wie gottverdammt einsam muss es sein, wenn man sich allein auf dem Meer befindet! Auch wenn Anfosso körperlich unversehrt an Land kam, die herzlose Unendlichkeit des Meeres wird seine Seele verwüstet haben. Alle Flüchtlinge, die nicht ertrunken sind, tragen diese Erfahrung der absoluten Verlassenheit in ihren Herzen wie eine Ampulle des Schreckens.

Als ich weiter in den Innenraum der Kirche gehe, kommt schnellen Schrittes ein kleiner Mann um die Ecke. Er legt die beflissene Eilfertigkeit an den Tag, wie sie Priestern eigen ist, die gleichzeitig Gott und den Menschen dienen.

"Sind Sie Don Stefano?“, frage ich.

Er bleibt stehen, schaut mich an: "Ja, was wünschen Sie?“

Ich erkläre ihm, dass ich mich mit ihm über die Insel und ihre Bewohner unterhalten möchte.

"Folgen Sie mir“, sagt er und geht voran durch eine offen stehende Tür.

Das Arbeitszimmer ist geräumig und schlicht eingerichtet. An der Stirnwand, gegenüber dem Schreibtisch, hängt ein großes Kreuz an der Wand, daneben steht auf einem Sockel eine über einen Meter hohe Statue der gekrönten Muttergottes mit Jesuskind. Sie überragt Don Stefano um Haupteslänge. Zu ihren Füßen steht ein Bootsmodell, in der Ecke hängt ein Bild des Papstes Benedikt XVI. Sein Nachfolger Franziskus wird Lampedusa bald einen Besuch abstatten und damit die Insel noch berühmter machen, als sie ohnehin schon ist.

"Was kann ich für Sie tun?“, fragt mich Don Stefano, nachdem er sich hinter den Schreibtisch gesetzt hat.

"Ich komme gerade vom Wallfahrtsort Cala della Madonna.“

"Hat es Ihnen gefallen?“

"Ja, es ist ein sehr schöner, ruhiger Ort“, antworte ich, und er lächelt zufrieden.

"Der Eremit, der dort lebte, ich interessiere mich für ihn, und ich dachte, Sie wüssten vielleicht mehr über ihn?“

"Es gab mehrere Eremiten im Laufe der Jahrhunderte, Lampedusa ist ja geeignet, wenn man sich zurückziehen will.“ Er legt eine Pause ein und fügt dann mit einem hintergründigen Lächeln hinzu: "Es war ein geeigneter Ort dafür!“

Der Medienpfarrer

Don Stefano hat in diesem Zimmer gewiss schon zahllose Journalisten empfangen. Immer wenn es ein größeres Unglück gibt, dann kommen sie scharenweise auf die Insel. Es sind manchmal so viele, dass sie sich auf der kleinen Insel gegenseitig auf die Beine treten. Und Don Stefano ist immer eine gute Adresse für die Medien. Er ist ja von Berufs wegen dazu ausgebildet, bei Katastrophen die richtigen Worte zu finden.

Geboren ist er in der Provinz Agrigent, Sizilien, doch er lebt seit einigen Jahren auf der Insel und kennt die Sorgen und Nöte der Lampedusaner wie kein Zweiter. Der Landpfarrer Don Stefano hat den Umgang mit den Medien wahrscheinlich erst lernen müssen und sich dabei professionalisiert. Er spricht in knappen Sätzen, klar und deutlich. Der Gedanke an diese immer wieder auftretende massive Präsenz der Medien lässt mich von meinem eigentlichen Thema abschweifen.

"Glauben Sie, dass die Einwohner Lampedusas sich verändert haben, seit ihre Insel so in die Schlagzeilen gekommen ist?“

"Die Lampedusaner sind großzügige Menschen, sie haben immer geholfen. Sie wissen, was es bedeutet, übers Meer zu fahren. Und sie sind selber nicht reich. Aber sie haben immer geteilt, was sie haben!“

"Und der viele Medienrummel?“

Don Stefano überlegt kurz und sagt dann: "Auf den ersten Blick erscheinen die Lampedusaner etwas ruppig. Aber ich kenne sie, und ich kann Ihnen sagen: Sie sind zerbrechlich wie ein Grissino, wirklich.“

Tote in den Netzen

Das Bild rührt mich. Grissino! Eine dünne mürbe Brotstange! Ich denke an den Fischer vor der Tür und wünsche mir jetzt, dass ich mein Ohr an seinem Rücken anlegen hätte können, um in ihn hineinzulauschen, ob da nicht etwas Zartes war, das knirschend zu zerbrechen drohte. Jetzt, da Don Stefano das Wort ausgesprochen hatte, wird mir mit einem Schlag klar, dass der Fischer geschwächt war und erschöpft, es aber gut hinter der Rede verborgen hatte, die er mir präsentierte.

Don Stefano legt mir mit dem Wort "Grissino“ einen Hinweis auf den psychischen Zustand der Einwohner von Lampedusa. Immerhin ertrinken seit Jahren Menschen vor ihrer Insel, manchmal verfangen sie sich in ihren Netzen, manchmal werden sie an Land gespült, manchmal sterben sie eingekeilt in einem sinkenden Boot. So viele Tote im eigenen Haus. Muss einem da nicht das Herz brechen? Und dann, dem Tod auf dem Fuße folgend, die vielen Journalisten, die nach Lampedusa kommen und jeden befragen, der ihnen vor die Mikrofone kommt. Muss man da nicht eine schützende Fassade errichten, aus der glatte Sätze herauspurzeln wie aufbereitete Happen für das hungrige Medientier? Der Priester hat mir ein Bild geschenkt, mit dem ich mit einem Schlag einen anderen Blick auf Lampedusa bekomme.

Ich komme zum Anlass meines Besuches zurück und frage: "Wissen Sie mehr über den Eremiten, als ich in Cala della Madonna erfahren konnte?“

"Viel mehr weiß ich auch nicht, nein!“

"Stimmt es denn, dass er je nachdem, wonach verlangt wurde, den christlichen oder den muslimischen Ritus ausführte?“

"Ja, wahrscheinlich. Mit Gewissheit wissen wir es nicht. Doch es wird so erzählt.“

"Sie glauben daran?“

"Ich denke, der Mann, allein da draußen, damals in diesen Zeiten: Er musste ja schauen, wo er blieb. Er war wahrscheinlich so ein Fai-da-te-Mann.“

Fai-da-te, das heißt so viel wie "einer, der sich selbst zu helfen weiß“, ein Mann der Marke Eigenbau, man könnte auch sagen ein Selfmademan, wobei es bei ihm nicht um Reichtum ging, sondern ums Weiterleben. Auch dieses Wort hat Don Stefano mit Bedacht gewählt, denn es beschreibt die vielseitigen und eben auch unchristlichen Tätigkeiten des Eremiten mit der gebotenen Distanz der Amtskirche, und gleichzeitig zollt er ihm Respekt. Es ist ein gelungener, ein geschickter Balanceakt.

"Er hat also den bedient, der gerade kam, und den religiösen Ritus abgehalten, der verlangt wurde, egal welchen?“

Don Stefano sitzt tief in seinem Sessel, er breitet die Arme aus und sagt: "Es war wahrscheinlich eine Überlebensfrage, mal diesen und mal jenen zu versorgen. So ist das Inseldasein, man ist abhängig und muss schauen, wie man weiterkommt.“

Dann spricht Don Stefano lange darüber, wie die Insel vernachlässigt wird, auch jetzt noch, da sie immer wieder in die Schlagzeilen kommt. Dabei sei es doch einfach, man müsse die Grundversorgung verbessern. Schulen, Krankenhaus, eine bessere, günstigere Anbindung an Sizilien. Er benennt all dies, ohne in jenen klagenden Ton zu verfallen, den ich bei anderen Gesprächspartnern gehört habe. Er bleibt verbindlich und gibt mir zu verstehen, dass er Verständnis für die Defizite der Politik habe, sie sei nun einmal eine verschachtelte, komplizierte Maschine, die zu langsam arbeite.

"Wir wissen zwar, was fehlt, aber wir kommen doch nicht voran. Ich selbst habe mit vielen Politikern und Verwaltern gesprochen, ich wurde zurate gezogen, habe dieser und jener Kommission angehört, ich habe Versammlungen besucht, aber …“

Man sieht Don Stefano jetzt an, dass er viele, viele Stunden damit verbracht haben muss, den Verantwortlichen in Rom und Sizilien zu erklären, was hier in Lampedusa gebraucht wird - ohne allzu großen Erfolg.

"Nein, leider sind wir nicht immer verstanden worden!“

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