Verschollen an der Grenze Europas

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Während der arabischen Rebellion versuchten sich über 50.000 Menschen nach Europa abzusetzen, auch in der Hoffnung, hier Jobs zu finden. Viele der Flüchtlinge verschwanden spurlos. Angehörige suchen nun nach ihnen.

Am 28. Jänner reiste eine Delegation tunesischer Angehöriger nach Palermo, Sizilien, um herauszufinden, was aus ihren Angehörigen - meist Söhnen - geworden ist, die am 1., 14. und 29. März 2011 per Boot in Richtung Sizilien losgefahren waren. Insgesamt werden 625 Personen vermisst. Die Hoffnung, dass sie noch leben, ist groß. Im Zuge und nach dem Ende des tunesischen Frühlings waren viele junge Tunesier in Richtung Europa aufgebrochen. Insgesamt waren rund 28.000 Tunesier nach Italien gekommen - die Gründe waren vielfältig: Manche wollten so ihre neue Freiheit einfordern, ohne wirkliche Pläne, auszuwandern, andere hofften, eine gute Stelle zu finden, um sich mit dem damit verdienten Geld später eine Existenz in Tunesien aufzubauen, manche wollten einfach Verwandte besuchen und einige Tunesier, die schon lange in Italien oder Frankreich lebten, nutzten aufgrund jahrelang nicht gewährter Familienzusammenführung, diese Möglichkeit, endlich ihre Verwandten zu sich zu holen.

Berlusconis Posse

Die Regierung Berlusconi bewältigte die Ankunft der Flüchtlinge auf denkbar schlechte Weise: Innenminister Maroni ließ sogar die Situation auf Lampedusa eskalieren, als wochenlang keine der ankommenden Migranten von der Insel weggebracht wurden (siehe FURCHE, 7. April 2011). Vielen der Angekommenen wurde schließlich ein Visum erteilt, gültig für ein halbes Jahr, mit dem sie weiter in andere europäische Länder reisen konnte, viele wurden nach Tunesien zurückgeführt und in der Folge war man auf italienischer Seite darauf bedacht, so rasch als möglich, die Flüchtlingsabwehrabkommen aus Ben Alis Zeiten mit den neuen Regierenden zu erneuern. Aktuell kommt so gut wie niemand über das Meer aus Tunesien, vereinzelt versuchen Bootsflüchtlinge von Libyen aus ihr Glück, hauptsächlich Somalier, zuletzt sank Ende Januar ein Boot mit rund 55 Menschen an Bord, 15 Körper wurden geborgen, die restlichen Insassen werden vermisst.

Die tunesische Delegation hat es nicht leicht in Italien. Konsul in Palermo Dr. Abderahman Ben Monsour, der schon unter Ben Ali Konsul war, verärgerte bei einem Treffen die Angehörigen mit seiner Bemerkung, dass die Vermissten irgendwo in Norditalien wären - ohne jedoch tatsächlich irgendetwas Konkretes zu wissen. Laut Judith Gleitze von Borderline Europe hatten die Tunesier schon vor Monaten gefordert, die Fingerabdrücke, die in jedem tunesischen Personalausweis enthalten sind, mit denen, die die italienische Polizei nach Ankunft der Tunesier machten, abzugleichen. Zunächst wollten die Tunesier nicht die Fingerabdrücke herausgeben. Bei einem bürokratisch hart erkämpften Besuch bei der Antiimmigrationszentrale in Agrigent (die für die ankommenden Flüchtlinge auf Lampedusa zuständig ist), wurde nun, so Gleitze, erklärt, dass angesichts der großen Anzahl ankommender Flüchtlinge (zeitweise waren mehr als 6000 Tunesier auf Lampedusa) die Fingerabdrücke nicht nach der Ankunft, sondern erst später in den einzelnen Flüchtlingslagern abgenommen wurden.

Im Hungerstreik

Ein Flüchtlingslager nach dem anderen abzusuchen ist schwierig, und oft nicht möglich. So wurde der Delegation der Zutritt zum Zentrum in Caltanissetta, Innersizilien, verwehrt. Trotzdem erfuhr, so Judith Gleitze von Borderline Europe, eine Vertreterin der Delegation, Mahrezia Cherfi, von einem dortigen Mitarbeiter, dass ihr 21-jähriger Sohn Mohamed (Bild rechts) dort gewesen war. Mohamed war am 12. Jänner 2011 während der tunesischen Revolution am Bein verletzt worden. Zwei Monate danach, mehr schlecht als recht kuriert, brach er, da er dem neuen Frieden nicht zu trauen wagte, von Sfax nach Lampedusa auf. In einem Nachrichtenbeitrag sah ihn seine Mutter, sie ist davon überzeugt, dass er noch lebt.

Nachdem einige Vertreter der Delegation einige Tage lang in Hungerstreik traten, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen, sind sie nun nach Rom weitergereist, wo sie aus Protest gegen die Untätigkeit ein Sit-in vor der tunesischen Botschaft durchführen wollen. Zudem ist ein Treffen mit dem neuen italienischen Minister für Kooperation und Integration, Andrea Riccardi, geplant. Riccardi hat bereits Angehörige der vermissten Tunesier bei einem Staatsbesuch in Tunesien am 14. Februar getroffen. Laut Presseaussendung des Ministeriums wurden ihm Fotos und Dokumente überreicht und er bekräftigte die Bereitschaft vonseiten der italienischen Regierung, für die Anliegen der tunesischen Angehörigen offen zu sein.

Der Fall der hartnäckig suchenden tunesischen Angehörigen führt erneut vor Augen, wie oft Flüchtlinge unbemerkt verschwinden. Oft gibt es keine Angehörigen, die die Möglichkeit haben, sich bemerkbar zu machen oder sich auf die Suche nach ihren Liebsten zu begeben. Viele, sehr viele Todesfälle von Flüchtlingen im Mittelmeer bleiben unbemerkt - und, wenn sie denn bekannt werden, weitgehend unbeachtet.

Mehr als tausend Tote

Während das gesunkene Kreuzfahrtschiff vor der toskanischen Küste wochenlang die Schlagzeilen beherrschte, machte die Verlautbarung von Sybilla Wilkes, Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats am 31. Jänner in Genf, dass im Jahr 2011 mehr als 1500 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben ließen, kaum Schlagzeilen. Diese vielen Opfer, so Wilkes, sind trauriger Rekord, seit die UNHCR ein genaues Auge auf die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer hat, nämlich 2006. Neben 2011 war 2007 mit 630 Toten das zweitschlimmste Jahr laut UNHCR. Dabei sind die Zahlen des UNHCR noch vorsichtig, manche Nichtregierungsorganisationen gehen von noch viel höheren Opferzahlen aus. Vielfach werden Schiffbrüche nicht gemeldet, Boote sinken unbemerkt, oder Schiffbrüchige werden links liegen gelassen und ihrem Schicksal überlassen - so geschehen im August 2009, als ein Boot mit mehrheitlich Eritreern an Bord wochenlang mit Motorschaden im Meer dahintrieb und nachweislich einige Schiffe, darunter die Marine von Malta, keine Hilfe leisteten. Am Ende überlebten nur fünf von mehr als 80, die losgefahren waren. Ähnliches geschah im Frühling 2011, als elf Überlebende, deren kleines Boot an die libysche Küste zurückgeschwemmt wurde, berichteten, dass ein Militärhelikopter ihnen einige Flaschen Wasser abgeworfen hatte, dann jedoch keine Hilfe mehr kam. Mehr als 70 Menschen starben, alles Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegslibyen - zu einer Zeit, als der Meeresabschnitt vor Libyen nur so wimmelte vor Kriegsschiffen.

58.000 Flüchtlinge aus Nordafrika in Europa

Vor einem Massenansturm von mehreren Hunderttausend Flüchtlingen war gewarnt worden. Nach amtlichen Schätzungen sind es nun 58.000 Menschen geworden, die seit Beginn der Arabellion in Europa um Asyl angesucht haben.

Laut dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) kamen mindestens 58.000. Das sind mehr als in den Vorjahren - und um 4000 mehr als im bisherigen Rekordjahr 2008. Nach dem Ende des Regimes von Muammar al-Gaddafi in Libyen im August sei die Zahl der Migranten stark zurückgegangen, erklärte die Sprecherin.

Schätzungen zufolge verloren mehr als 1500 Menschen beim Versuch, nach Europa zu gelangen, ihr Leben, was ebenfalls ein neuer Höchstwert ist. Überlebende hätten erschütternde Szenen bei gefährlichen Überfahrten in völlig unzulänglichen Booten geschildert, berichtete eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR am Dienstag in Genf.

"Wir appellieren erneut an die Kapitäne auf dem Mittelmeer - einer der verkehrsreichsten Meeresregionen, wachsam zu sein und ihrer Pflicht zur Rettung von Seefahrzeugen in Not nachzukommen“, sagte die UNHCR-Sprecherin Sybella Wilkes. Genau das tat am Dienstag ein Fischer vor der italienischen Küste, der mehr als einhundert Menschen rettete. (APA/red)

Visa

Im von der italienischen Regierung unter Silvio Berlusconi angerichteten Chaos wurde italienischen Behörden einfach befohlen, Flüchtlinge aus Tunesien mit Visa auszustatten und über die Grenze nach Frankreich zu expedieren (unten links). Unten rechts: Opfer der Flucht übers Meer.

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