Tunesien auf dem Scheideweg

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Der nordafrikanische Kleinstaat entwickelte sich zwar in den letzten Jahren enorm, dennoch steht er heute vor großen Problemen und einer permanenten Terrorgefahr.

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Der nordafrikanische Kleinstaat entwickelte sich zwar in den letzten Jahren enorm, dennoch steht er heute vor großen Problemen und einer permanenten Terrorgefahr.

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Tunesien hat in den vergangenen fünf Jahren einen korrupten Diktator abgeschüttelt, eine islamistische Regierung ausprobiert und wieder abgewählt, eine Verfassung mit Vorbildcharakter für ganz Nordafrika ausdiskutiert und angenommen und für seine Version der sozialpartnerschaftlichen Problemlösung den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. Das ist nicht wenig, wenn man sich die Bilanz der anderen Staaten ansieht, wo im Jahr 2011 der Arabische Frühling seine erste zarten Triebe entwickelte.

Trotzdem steht Tunesiens Jasminrevolution auf der Kippe. Der erfolgreiche Wandel der politischen Strukturen wurde nicht vom erhofften wirtschaftlichen Aufschwung begleitet. Mohammed Bouazizi, jener junge Akademiker, der seinen Lebensunterhalt in der Kleinstadt Sidi Bouzid im Landesinneren mit einem Gemüsekarren verdiente und sich nach der Abzocke und Demütigung durch korrupte Polizisten selbst verbrannt hat, wäre heute auch nicht besser dran. Diese Meinung vertritt Hamza Meddeb vom Carnegie Middle East Center in Beirut. "Viel Energie wurde mit der Kompromisssuche zwischen Islamisten und säkularen Kräften des alten Regimes vergeudet. Das ging auf Kosten der Wirtschaft und der drückenden Sorgen der Bevölkerung, im Besonderen der Jugend", sagt der Ökonom, der Ende Jänner auf Einladung des Wiener Instituts für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit (vidc) in Wien war. Armut und Korruption, die Ursachen für die Rebellion der Massen nach dem Tod des Straßenhändlers, grassieren heute genauso.

Ein Volk lebt im Elend

Es seien vielleicht andere Leute, aber die Mechanismen der Korruption seien die gleichen wie vorher. "Das Ausstellen von Lizenzen ist ein Markt der Korruption." Auf lokaler Ebene seien viele Funktionäre des alten Regimes wieder auf ihrem Posten. Anfang des Jahres starb wieder ein junger Mann bei einer Demonstration. Der 28-jährige Ridha Yahyaoui in der zentraltunesischen Stadt Kasserine erlitt einen tödlichen Stromschlag, als er auf einen Strommast kletterte. Er war durch korrupte Beamte von einer Liste für die Aufnahme in den öffentlichen Dienst gestrichen worden. In der Provinz Kasserine, nahe der algerischen Grenze, verfügt nur jeder zweite Haushalt über einen Trinkwasseranschluss. Im Landesdurchschnitt sind es 90 Prozent. "Nichts hat sich verändert", klagt Hamza Meddeb. Jahrzehntelang habe der Zentralstaat 80 Prozent des Haushalts in die Küstenregion gesteckt. Die wird zwar von 70 Prozent der Bevölkerung bewohnt, macht aber nur ein Fünftel des Territoriums aus. "Gebiete, die weit entfernt von Häfen und Flughäfen liegen, haben ein Problem mit dem Zugang zu Bildung, der Gesundheitsversorgung und der Infrastruktur. Es gibt zwei unterschiedliche Tunesien", sagt Meddeb.

Jährlich drängen 140.000 Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt, der maximal 60.000 aufnehmen könne. Tunesien benötige ein Wirtschaftswachstum von sieben bis zehn Prozent, um aus der Krise zu kommen, meinen Experten. 2015 betrug das Wachstum aber gerade 0,5 Prozent.

In den Fängen der Terroristen

Unter Jugendlichen und jungen Akademikern ist die Arbeitslosenquote mit über 40 Prozent explosiv hoch. In Grenzregionen blüht der Schmuggel mit Benzin, Schnaps, Zigaretten und Waffen. Die Schmuggler arbeiten oft mit Jihadisten zusammen, die die Region seit Jahren destabilisieren.

Radikale islamistische Kräfte, allen voran der sogenannte Islamische Staat, lassen nichts unversucht, um die Konsolidierung des Landes zu verhindern. Vergangenes Jahr erschütterten drei blutige Anschläge Tunesien. Im März überfielen Terroristen das Bardo Nationalmuseum in Tunis und töteten 24 Menschen, 20 davon Touristen. Ende Juni eröffnete ein Islamist vor einem Strandhotel in Port El Kantaoui bei Sousse das Feuer auf Touristen und ermordete 38. Im November riss eine Bombe in einem Bus der Präsidentengarde ein Dutzend Männer in den Tod und verletzte weitere 16. Tunesien verfügt, anders als der große Nachbar Libyen, über keine bedeutenden Rohstoffreserven. Wichtigster Devisenbringer ist der Fremdenverkehr, der 400.000 Menschen beschäftigte. Aber die Einnahmen aus dem Tourismus sind seit den Anschlägen um 80 Prozent zurückgegangen.

"Der Tourismus wäre auch ohne die Anschläge eingebrochen", meint der österreichische Journalist Gerald Drißner, der in Tunis lebt und in seinem Buch "In einem Land, das neu beginnt. Eine Reise durch Tunesien, nach der Revolution" eine ernüchternde Bilanz zieht: "Tunesien kann qualitativ einfach nicht mehr mithalten mit anderen Ländern. Sonne allein reicht nicht mehr", meint er in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung Die Welt. Denn Sonne habe Mallorca auch: "Dort sind Essen und Service besser, man kann draußen Wein trinken und man tritt nicht ständig auf Müll".

Drißner, der für sein Buch auch die heruntergekommenen Provinzen im Landesinneren besucht hat, wundert sich, dass die Jasminrevolution überhaupt nicht touristisch vermarktet werde. Mit seinem Ruf als Billigdestination mache Tunesien auch viel zu wenig aus seiner faszinierenden Landschaft und den antiken Ruinenstädten.

In Zentraltunesien ortet der Autor den Ausgangspunkt für die Islamisierung das Landes und für die Massenflucht nach Europa. Tunesier stellen eines der größten Kontingente von Jihadisten, die für den IS kämpfen. Die Vereinten Nationen schätzen deren Anzahl auf 5000, das tunesische Innenministerium gehe von 3000 bis 3500 aus, sagt Hamza Meddeb: "Es ist offenkundig, dass Tunesien ein großer Exporteur von Jihadisten ist." Viele von ihnen kämpfen in Libyen, wo der IS gerade versucht, bedeutende Ölfelder unter seine Kontrolle zu bringen. Tunesier wissen nicht, ob sie den Ausbruch des totalen Chaos im Nachbarland oder eine ausländische Intervention mehr fürchten sollen. In jedem Fall würden noch mehr bewaffnete Islamisten ins Land sickern. Die Regierung stecke jetzt schon mehr als 20 Prozent des Budgets in die Armee und den Sicherheitsapparat - weit mehr als unter Diktator Ben Ali.

Langer Weg zur Demokratie

Meddeb wünscht sich, dass sich die Terrorismusbekämpfung nicht auf die Hochrüstung beschränke: "Wenn wir die Radikalen bekämpfen wollen, müssen wir die gemäßigten Salafisten, die eine konstruktive Rolle spielen wollen, einbinden." Die Zivilgesellschaft müsse gestärkt und die Religion nicht als Monopol einer Gruppe betrachtet werden.

"Die notwendigen Gegengewichte für eine lebensfähige Demokratie wurden noch nicht geschaffen", meint auch die Politikwissenschaftlerin Helá Yousfi. Nach den Erfolgen, wie sie die neue Verfassung und die freien Wahlen darstellen, dürfe man die Reformpolitik nicht stoppen. Das Land habe noch immer kein Verfassungsgericht, und viele Gesetze, die im Widerspruch zum neuen, liberalen Verfassungstext stehen, seien nach wie vor inkraft.

Von Europa hätte sich der Ökonom Hamza Meddeb mehr erwartet. Das "Tiefe und umfassende Freihandelsabkommen" (DCFTA), das die EU gerade mit Tunesien aushandelt, begünstige vor allem die europäischen Unternehmen. Vor allem auf den Gebieten der Dienstleistungen und der Landwirtschaft. Für Tunesien setzt es auf die Förderung von Niedriglohnsektoren für gering qualifizierte Beschäftige, statt Perspektiven für die gut ausgebildete junge tunesische Bevölkerung zu schaffen. Meddeb wünscht sich stattdessen "einen tiefen und umfassenden Dialog" auf Augenhöhe.

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