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Von denen keiner spricht

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Eliane und Katherine sind heute zehn beziehungsweise fünf Jahre alt. Wenn sie noch leben. Vor einem Jahr wurden die beiden Mädchen gemeinsam mit ihrer Mutter gezwungen, in ein schwarzes Taxi ohne Nummernschild zu steigen. Marco Antonio Crespo, der 74jährige Nachbar, wollte der Frau noch zu Hilfe kommen. Da nahmen sie ihn auch gleich mit. Sie — das waren kolumbianische Geheimpolizisten. Ort der Handlung: Calvo Sur, nahe Bogota.

Die Verwandten der Frau und der beiden kleinen Mädchen machten sich auf die Suche. Die

Behörden schwiegen. Die drei und der alte Mann blieben „verschwunden". Die Gefangenenhilfe-Organisation amnesty international (ai) ist der Überzeugung, daß politische Motive im Spiel waren. Eliane und Katherine sind heute zehn beziehungsweise fünf Jahre alt. Wenn sie noch leben. Kinder — zwei Kinder von Tausenden — die Opfer politischer Verfolgung wurden.

Wenn man an politische Verfolgung, an politisch Verfolgte denkt, dann denkt man automatisch an Erwachsene: an Männer und Frauen, die wegen ihrer Religion, ihrer politischen Anschauung, ihrer Hautfarbe oder wegen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit verfolgt, gefoltert, inhaftiert oder gar hingerichtet werden.

Dem ist nicht so. Die politische Verfolgung, gleichgültig in welchem ideologischen System oder Erdteil hat System. Und in dieses System werden auch die Kinder hineingezogen. Entweder nach dem (oft so leichtfertig daherge- redeten) Grundsatz „Mitgefangen - Mitgehangen“, oder nach dem Prinzip: „Erwischen wir den Vater (Bruder, Onkel,…) nicht, dann nehmen wir das Kind als Geisel.“

So geschehen im Iran. Im berühmt-berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis wurde im Juni 1981 ein elfjähriger Bub eingeliefert. Sein Vater war den Häschern entkommen. Die Revolutionswächter nahmen daraufhin das Kind mit. Wenige Tage nach der Etnlieferung wurde der Junge hingerichtet. Der Grund für die Hinrichtung eines Kindes: der Bub war zum religiösen Richter des Evin-Gefängnisses (vermutlich Ayatollah Gilani) unhöflich gewesen.

In der Sowjetunion haben Kinder indirekt unter politischer Verfolgung zu leiden; nämlich dann, wenn sie gemeinsam mit ihren Eltern aktiv ihren Glauben praktizieren. Baptisten, Angehörige der Pfingstgemeinde und Adventi- sten werden an der Ausübung religiöser Zusammenkünfte gehindert.

amnesty international liegen Berichte vor, wonach die Behörden unter Berufung auf das sowjetische Familiengesetz Angehörigen von Religionsgemeinschaften die Kinder weggenommen haben, weil „die Eltern ihre Pflichten vernachlässigt haben“. Aus Litauen liegen Berichte vor, daß Kinder römisch-katholischer Eltern in der Schule diskriminiert werden - einzig aus dem Grund,

weil sie sich zu dieser Glaubensgemeinschaft bekennen.

An ein hölzernes Kreuz gebunden wurde eine 17jährige Oberschülerin im Polizeihauptquartier in Ankara (Türkei). Das Mädchen wurde so an einer Wand aufgehängt und zwei Tage lang mit Elektroschocks an Lippen, Fingern und Geschlechtsorganen gefoltert. Der Grund ihrer Festnahme und Mißhandlung: In ihrer Schule war ein Gewehr gefunden worden. Am 17. Mai 1980, zwei Wochen nach ihrer Festnahme wurde das Mädchen freigelassen — die Anschuldigungen hatten sich als völlig haltlos erwiesen.

Kinder, ja auch Kinder werden aus politischen Gründen verschleppt, hingerichtet, sollen von ihrem Glauben abgebracht werden, sind Folterknechten ausgeliefert.

Die voller Bitterkeit zu erfahrende Wirklichkeit lehrt uns, daß Menschen nicht davor zurückschrecken, auch schwangere Frauen zu quälen und damit werdendes Leben bedrohen, zum Beispiel in Argentinien.

Den politisch verfolgten Kindern will und muß amnesty international helfen. In Österreich wurde von ai das „Projekt Hoffnung“ ins Leben gerufen. Es ist dies ein Netzwerk der Hilfe, mit dessen Unterstützung Kinder mittels Appellen und Interventionen, einer massiven Öffentlichkeitsarbeit und Beistand ihre Freiheit wiedererlangen sollen. Rechtsanwaltskosten sollen von amnesty getragen werden, notlei dende Familien finanziell unterstützt, Schulgeld für Kinder bezahlt und Medikamente geschickt werden.

Briefaktionen von österreichischen Schülern der Oberstufe für verfolgte, gefolterte oder inhaftierte Kinder und Jugendliche sollen organisiert werden. Wie mag ein Staatsoberhaupt wohl reagieren, wenn ein 15jähriger Junge um Aufklärung über den Verbleib eines „verschwundenen“ Schülers bittet?

Schon in der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß politisch Verfolgten - auch Kindern - durch beharrliche Betreuung erfolgreich geholfen werden konnte. Sie gingen frei. So wie Tamara Rive- ros, die ihre Mutter nach sieben Jahren wiederfand. Tamara war gerade 18 Monate alt gewesen, als man ihre Mutter Rosemary in Buenos Aires verhaftete und einsperrte.

amnesty betreute die Frau, der es — als sie 1981 freikam — nach zweijähriger Suche gelang, ihre Tochter in der argentinischen Hauptstadt zu finden. Auch Veronika Handl - österreichische Staatsbürgerin, die im Gefängnis einen Sohn zur Welt bringen mußte, kam frei und konnte aus ihrem argentinischen Gefängnis nach Wien ausreisen.

amnesty international will weiter helfen. Unter dem Motto „Wo Hoffnung ist, ist Leben“. Denn nur der, der spürt, daß „draußen“ geholfen wird, hat die Hoffnung, freizukommen.

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