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„Gefangenen das Gefühl vermitteln, daß sie nicht ganz allein sind...“

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„Wann immer Sie in dieser Woche die Zeitung aufschlugen, werden Sie darin einen Bericht gefunden haben, daß irgendwo in der Welt irgendein Mensch inhaftiert, gefoltert oder hingerichtet wurde, weil seine persönliche Uberzeugung oder seine Religion für die Regierung des Landes unerträglich war. Millionen Menschen sind auf diese Weise in Haft - und das gewiß nicht nur hinter dem Eisernen oder dem Bambusvorhang - ihre Zahl wächst. Den Zeitungsleser überkommt ein Gefühl von Übelkeit und Ohnmacht. Und doch könnte seine Entrüstung in der ganzen Welt zu gemeinsamem Handeln führen, das auch etwas bewirken würde.“

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„Wann immer Sie in dieser Woche die Zeitung aufschlugen, werden Sie darin einen Bericht gefunden haben, daß irgendwo in der Welt irgendein Mensch inhaftiert, gefoltert oder hingerichtet wurde, weil seine persönliche Uberzeugung oder seine Religion für die Regierung des Landes unerträglich war. Millionen Menschen sind auf diese Weise in Haft - und das gewiß nicht nur hinter dem Eisernen oder dem Bambusvorhang - ihre Zahl wächst. Den Zeitungsleser überkommt ein Gefühl von Übelkeit und Ohnmacht. Und doch könnte seine Entrüstung in der ganzen Welt zu gemeinsamem Handeln führen, das auch etwas bewirken würde.“

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Mit diesen Sätzen begann Peter Be-nenson am 28. Mai 1961 jenen Artikel in der englischen Zeitung „Observer“, der am Anfang der Organisation stand.

Seit 1970 gibt es auch eine österreichische Sektion von Amnesty International, 50 aktive Adoptionsgruppen - mit rund 1000 Mitgliedern betreuen Gewissensgefangene in aller Welt, rund 4500 Mitglieder und Förderer beziehen auch den monatlichen Rundbrief der Gefangenenhilfsorganisation. Längst ist es nicht mehr so, daß Österreichs Amnesty-Sektion, die lange unter einem „Links-Syndrom“ litt, einem einseitigen politischen Fahrwasser verhaftet wäre: Der weite Bogen prominenter Persönlichkeiten des Amnesty-Kuratoriums spannt sich heute von Christian Broda und Heinz Fischer über Burgschauspielerin Judith Holzmeister und Bischof Johann, Weber bis zu Persönlichkeiten wie Felix Ermacora oder Josef Krainer. < .

Wie Dr. Wolfgang Aigner, stellvertretender Vorsitzender der Österreich-Sektion, meint, ist mehr als die Hälfte der österreichischen Amne-sty-Gruppen nicht linksorientiert. Dominierend innerhalb der Organisation seien kirchliche Gruppierungen. Aigner: „Womit wir heute zu kämpfen haben, ist nicht eine mögliche Linksla-stigkeit, sondern eine grundlegende Aversion gegen Amnesty, weil sich Amnesty mit verfemten Minderheiten beschäftigt.“ Diese Aversion rühre nicht zuletzt daher, daß der Österreicher mentalitätsmäßig eher autoritätsgläubig eingestellt ist und daher den Maßnahmen der Justiz - in welchem Land auch immer - nicht stets mit der vielleicht nötigen Skepsis gegenübersteht. Motto vieler Durchschnittsösterreicher: „Die werden schon wissen ...“

Ähnlich wie in dutzenden anderen Ländern hat Amnesty-Österreich kürzlich sein Programm für das Jahr 1977 proklamiert: In allen Bundesländern wird eine großangelegte Werbeaktion gestartet, die sich zum Ziel setzt, jeden 100. Österreicher für Amnesty als Mitglied zu gewinnen. Außerdem wurde 1977 zum „Jahr des politischen Gefangenen“ ausgerufen. Amnesty wird aus diesem Anlaß seine rund 100.000 Mitglieder in 78 Staaten der Welt dazu vergattern, Unterschriften für eine Petition zu sammeln. Diese Petition soll die Generalversammlung der Vereinten Nationen auffordern, rasche und konkrete Schritte zu unternehmen, um die strikte Einhaltung der Erklärung der Menschenrechte zu garantieren, und außerdem von allen Regierungen verlangen, für die Freilassung aller Gewissensgefangenen zu sorgen. Zum Auftakt des „Jahres des politischen Gefangenen“ veranstaltete Amnesty vom 1. bis 18. Dezember eine Ausstellung von Werken bildender Künstler Österreichs im Wiener Reinhardt-Seminar.

Österreich-Vorsitzender Magister Franz Schneider erklärte, in 112 Staaten der Welt würden heute die Menschenrechte verletzt, in 60 Ländern stehe sogar die Folter noch immer auf der Tagesordnung. Das Spektrum der von der österreichischen Sektion adoptierten Gefangenen reicht daher von Ägypten über Uruguay bis zur Sowjetunion. Österreichs Gruppen haben während ihres bisher sechsjährigen Bestehens bereits für 117 Gewissensgefangene in 42 verschiedenen Nationen die Freilassung erwirkt Sogar Österreichs so beschaulicher Nachbarstaat, die Schweiz, scheint in der Liste auf: Eine österreichische Gruppe hat die Freilassung von Rudolf Epple bewirkt, der sich über die eidgenössische Wehrpflicht hinweggesetzt und Gewissensgründe geltend gemacht hatte.

Wie nun die Amnesty-Organisation in der Praxis arbeitet, schildert Pressereferent Michael Kerbler: Amnesty erfährt aus den Medien oder durch eine persönliche Information von einer Verhaftung im Lande X. Der Verhaftete, so wird berichtet, wird aus politischen Gründen - entgegen den Bestimmungen der Menschenrechtserklärung - verfolgt Vorerst handelt es sich um einen Untersuchungsfall („in-vestigated case“). Das heißt Amnesty sucht Kontakte zu Verbindungsleuten, zu Exilorganisationen oder schickt eine eigene Mission in das betreffende Land, um zusätzliche und sichere Informationen über ihren „inve-stigated case“ zu erhalten. Läuft alles den ursprünglichen Informationen gemäß, so verwandelt sich der Fall von einem „investigated case“ zu einem „adopted case“. Das heißt: Der Gefangene wird von Amnesty adoptiert und einer nationalen Sektion (und hier

Bis zu diesem Punkt war die zentrale Stelle von Amnesty in London federführend. Nun ist die betreuende Gruppe am Zug: Sie versucht mit dem Häftling in Kontakt zu treten, schreibt seinen Verwandten, Freunden, Mithäftlingen, sorgt für Publizität für seinen Fall, sendet Petitionen an die zuständigen Auslandsvertretungen, an Regierungen und schickt rechtskundige „Prozeßbeobachter“ zu Gerichtsverhandlungen. Damit soll einerseits dem Häftling das Gefühl, völlig allein dazustehen, genommen werden, gleichzeitig hofft Amnesty, mit seinen Aktionen ganz generell auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit in bestimmten Ländern doch einen gewissen, wenn auch bescheidenen, moralischen Druck ausüben zu können.

Daß Hilfe nicht ganz unmöglich ist, möchte Michael Kerbler an Hand eines chilenischen Falles vor Augen führen: „Meine Gruppe hat in Chile einmal einen Gewissensgefangenen adoptiert, der unter menschenunwürdigen Bedingungen in Haft gehalten worden ist. Wir richteten zehn oder zwölf Briefe an ihn, weil davon erfahrungsgemäß einer oder zwei durchkommen. Und so war es tätsächlich. Der Brief ging sogar unter allen Häftlingen herum und wurde dann auch dem Gefängnisdirektor bekannt. Wie wir wissen, bekamen die Häftlinge plötzlich Decken, Holzpritschen und eine bessere Verpflegung.“

Als Rechtsreferent von Amnesty war Wolfgang Aigner erst kürzlich im Auftrag der Gefangenenhilfsorganisation in offizieller Mission zur Prozeßbeobachtung in der CSSR. Aigner nahm sich einer Gruppe junger Künst-ler'an: Der beiden Rockgruppen „Pla-stic People of the Universe“ und „DG 307“. Mitglieder dieser Gruppen waren in Prag und Pilsen verhaftet worden. Der Anlaß für die Verhaftung der Untergrundkünstler war an den Haaren herbeigezogen: Ivan Jirous, Vra-tislav Brabenec, Pavel Zajicek und Svatopluk Karasek wurden wegen Erregung „öffentlichen Ärgernisses“ verhaftet - und nicht wegen Verbreitung systemkritischer Gedichte und Lieder, deren sie genügend produziert haben (siehe die eine „Kostprobe“ rechts außen). Der konkrete Anlaß war schlicht und einfach das Wort „Scheiße“, das sich in einem der Gedichte fand.

Nun, Dr. Aigner konnte zwar nicht am Prozeß selbst teilnehmen, aber immerhin mit den Familienangehörigen und den Verteidigern sprechen. Aigner: „Das Schlimmste in den Oststaaten ist, wenn die Leute glauben, völlig allein dazustehen. Dieses Gefühl trachten wir ihnen zu nehmen, außerdem übt unsere internationale Beobachtung doch einen gewissen Druck aus.“

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