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Chile: Arg, aber besser

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Am 27. November wurde der im September abgeschlossene Bericht über die Untersuchung der gegenwärtigen Situation der Menschenrechte in Chile der Generalversammlung der Vereinten Nationen mündlich vorgestellt. Eine UN-Untersuchungskommission, der der Verfasser dieses Beitrags angehörte, war im Juli 16 Tage lang in Chile gewesen. Die besondere Bedeutung dieses Falls liegt darin, daß die UN in der Lage waren, an Chile einen Modellfall zu entwickeln, wie Untersuchungen an Ort und Stelle vorgenommen werden sollen. Die damit verbundene Signaiwirkung ist freilich nur eine solche am Papier. Denn andere südamerikanische Regime, in denen die Situation ähnlich war wie in Chile, stehen unter dem Schirm mächtigerer Protektoren.

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Am 27. November wurde der im September abgeschlossene Bericht über die Untersuchung der gegenwärtigen Situation der Menschenrechte in Chile der Generalversammlung der Vereinten Nationen mündlich vorgestellt. Eine UN-Untersuchungskommission, der der Verfasser dieses Beitrags angehörte, war im Juli 16 Tage lang in Chile gewesen. Die besondere Bedeutung dieses Falls liegt darin, daß die UN in der Lage waren, an Chile einen Modellfall zu entwickeln, wie Untersuchungen an Ort und Stelle vorgenommen werden sollen. Die damit verbundene Signaiwirkung ist freilich nur eine solche am Papier. Denn andere südamerikanische Regime, in denen die Situation ähnlich war wie in Chile, stehen unter dem Schirm mächtigerer Protektoren.

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Wie erinnerlich, hat die Regierung Allende eine Reformpolitik in die Wege geleitet, die unter Mißachtung und Wandlung der 100jährigen chilenischen Verfassungsträdition volksdemokratische Grundsätze zu verwirklichen schien. In diesen Prozeß einer volksdemokratischen Regierungspolitik scheint der Militärputsch von 1973 hineingestoßen zu haben.

Die Aktionen der Militärdiktatur waren rücksichtslos. Sie beschränken sich nicht auf eine Übergangszeit. Man brachte das Land und seine politischen Kräfte unter eine rigorose Kontrolle und scheute dabei kein Mittel. Zehntausende von Menschen wurden exiliert, Berichte über verschwundene Personen lassen nicht nach, Folterungen waren institutionalisiert, die breiten Massen sind einem Regime unterworfen worden, das in den volkreichen Vorstädten wohl jede Familie das eine oder das andere Mal zu spüren bekam.

Die von der Sozialistischen Internationale angeregten Appelle der UN an. Chile brachten zunächst keinen Erfolg. Obwohl die chilenische Regierungschon 1975 ihre Zustimmung

„Sicher wird man nicht davon sprechen können, daß es keine Folter mehr gebe ...“

zur Einreise einer UN-Untersuchungskommission gegeben hatte, wurde diese Zustimmung wieder zurückgenommen. Bis 1978 hatte man die im Internierungslager zum Teil ohne richterliches Urteil festgehaltenen Personen weitgehend freigelassen. Nach langwierigen Verhandlungen kam heuer die Einreisebewilligung zustande.

Die chilenische Regierung hat der Kommission volle Freizügigkeit gewährt. Die technische Hilfe erhielt die Untersuchungskommission von einer in Santiago stationierten UNO-Einrichtung. Diese sorgte für die Sicherheit der Mitglieder, für deren Transport, für die sehr wesentlichen Ubersetzungsarbeiten.

Die chilenische Regierung aber hat der Kommission den Zugang zu allen Staatsstellen und allen von ihr verwalteten Räumlichkeiten ermöglicht. Die Kommission konnte Gefängnisse besichtigen. Sie hatte die Möglichkeit, ein ehemaliges sogenanntes Folterzentrum zu besuchen. Es wurden ihr die sozialen Einrichtungen des Staates gezeigt. Hohe und höchste Autoritäten konnten zu einem Gespräch gebracht werden. Die Kommission konnte mit Hilfe der Einrichtungen der katholischen Kirche alle sozialen Schichten und deren Probleme in Santiago kennenlernen.

Was die Frage der sogenannten politischen Häftlinge angeht, so ist es zunächst ein Streit um Worte. Wer ist politischer Häftling? Nach Auffassung der chilenischen Regierung gibt es keine politischen Häftlinge. Nach juristischen Vorstellungen, die die Vereinten Nationen prägen, sind aber alle jene politische Häftlinge, die auf Grund der Sicherheitsgesetze des Staates verhaftet sind, in Untersuchungshaft stehen oder als Verurteilte eine Strafe absitzen.

Die Kommission konnte zwei bedeutende Gefängnisse besuchen: Santiago und Valparaiso, wo die Mitglieder der Kommission eine völlig freie Diskussionsmöglichkeit mit Inhaftierten hatten. Diese Inhaftierten sind in den Augen der UN politische Häftlinge. Sie sind abgesondert von ordentlichen Strafgefangenen in allgemeinen Gefängnissen untergebracht.

Die Kommission hatte den Eindruck, daß die Anhaltung in Konzentrationslagern ohne richterliches Urteil ihr Ende gefunden hat. Entweder sind die Leute exiliert oder die Menschen sind auf freien Fuß gesetzt und leben in Chile, oder aber Personen sind verurteilt und sitzen ihre Haftstrafe ab. Ich habe schon Gefängnisse gesehen, die in ihrer äußeren Erscheinungsform einen betrüblicheren Eindruck machten als etwa das Gefängnis zu Santiago.

Was die Frage der Behandlung politischer Häftlinge angeht, so scheint die Anwendung der Folter, des Elektroschocks usw. nicht mehr systematisch .und institutionalisiert zu sein. Sicher wird man nicht davon sprechen können, daß es keine Folter mehr gebe. Wir haben einen Fall mit allen Mitteln korrekter Tatsachen-findung erforscht und konnten an Ort und Stelle später dann in Genf feststellen, daß in diesem einen Fall eine Person beim Verhör gefoltert wurde.

Eines der gravierendsten Probleme für einen zivilisierten Staat, der über ein Jahrhundert lang demokratischen Grundsätzen gehorchte, ist die Frage nach den verschwundenen Personen. Nach wie vor beziehen sich die Berichte über die Zahl verschwundener Personen auf unterschiedliche Größen.

Auf der, einen Seite wird von rund 2000 Menschen gesprochen, die seit 1973 verschwunden seien; auf der anderen Seite hegt eine Liste von 615 Peronen den staatlichen Stellen vor, die von kirchlicher Seite der Regierung überreicht wurde. Man sagt, daß diese 615 Personen nur jene seien, die glaubhaft von staatlichen Organen verhaftet wurden. Uber diese 615 Personen hinaus habe man keine glaubhaften Beweise.

Im Innenministerium gibt es eine eigene Abteilung, die eine Kartei über die verschwundenen Personen führt und Informationen registriert. Allerdings: Uberall dort, wo die Geheimpolizei mitteilt, daß eine Person von ihr niemals verhaftet wurde, endet auch die Untersuchung des Staates. Die Information der Geheimpolizei ist der Weisheit letzter Schluß.

Das gilt aber auch für die unabhängige Gerichtsbarkeit, die , sich mit zahlreichen Beschwerden über das Schicksal verschwundener Personen zu befassen hat. Auch hier reicht die Weisheit der unabhängigen Gerichtsbarkeit nicht weiter als die Information der Geheimpolizei. Eine eigentliche Untersuchung gegen die Geheimpolizei ist in keinem Falle ernsthaft angestellt worden - das übrigens mit Argumenten abgesichert, die aus der Rüstkammer des Rechtspositivismus stammen.

Die Kommission konnte einen Blick auf die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen im Lande werfen. Man wird gewiß von Bemühungen der Militärregierung

sprechen können, dem sozialen Unglück entgegenzutreten. Doch scheinen diese Bemühungen, gemessen an dem Ausmaß der sozialen Situation, nicht befriedigend zu sein. Ob eine freie Marktwirtschaft allein die Lösung für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ist, das ist die Frage.

Die Kommission hatte die Möglichkeit, mit bedeutenden ehemaligen politischen Führern der verschiedenen politischen Gruppen, mit Journalisten und mit Persönlichkeiten der katholischen und der evangelischen Kirchen zu sprechen. Man hat den Eindruck, daß Chile weit von einer demokratischen Ordnung, wie wir sie uns in westlichen Staaten vorstellen, entfernt ist.

Politsche Parteien sind verboten. Freigewählte Gewerkschaften gibt es nicht, und auch sonst nicht jene Freiheiten der Meinungsäußerung, die man hierzulande gewohnt ist. Die Presse scheint der Selbstzensur unterworfen. Man hatte auch den Eindruck, daß die Regierung des Staates es peinlich vermeidet, mit ehemaligen Führern ehemaliger politischer Kräfte ins Gespräch zu gelangen.

Man hat den Eindruck, daß zwischen den Regierenden und den Regierten eine tiefe Kluft besteht. Man fragt sich mit Bangen, wie diese Kluft geschlossen werden kann.

Während die Untersuchungskommission in Chile war, knisterte es im Gebälk der Militärregierung. Ein Mann der Öffnung, der Luftwaffengeneral Leigh, wurde aus der Junta entfernt. Damit scheint sich die Macht in General Pinochet zu konzentrieren. Man arbeitet an einer neuen Verfassung. Ob dies eine ständestaatliche Verfassung sein wird, ist noch nicht auszunehmen. Ich persönlich neige als Kenner ständestaatlicher Ordnungen (Österreich zwischen 1934 und 1938!) zu der Auffas-

„Man hat den Eindruck, daß zwischen den Regierenden und den Regierten eine tiefe Kluft besteht.“

sung, daß das System auf eine ständestaatliche Staatsordnung hintendiert.

Wenn man als Tourist nach Chile kommt, vor allem nach Santiago, hat man den Eindruck, daß man in einem friedlichen Gemeinwesen lebt: kaum Uniformen auf den Straßen, gefüllte Auslagen, Menschenmassen in der City. Ich persönlich habe den Eindruck, daß auch der jetzige bayrische Ministerpräsident Strauß nur jene Plätze in Chile besichtigte, die ihm von der Regierung gezeigt wurden und er daher nach Europa mit jener Meinung zurückgekommen ist, die auch amerikanische Touristen vertreten: In Chile nimmt der Alltag seinen normalen Lauf.

Nur wenn man die Möglichkeit hat, so wie eine unabhängige Untersuchungskommission alle Ebenen der Gesellschaft und alle Probleme der Gesellschaft zu prüfen, wird man zu einer anderen Auffassung kommen müssen als zu der des Touristen: Chile ist weit davon entfernt, eine demokratische Ordnung zu sein. Chile ist weit davon entfernt, ein Hort der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu sein, wenngleich - das ist nicht zu übersehen - der Alltag, auch der menschenrechtliche Alltag, sich gegenüber früheren Berichten der Untersuchungskommission wesentlich gebessert hat.

Aber bis heute besteht, trotz Auflösung der gefürchteten Geheimpolizei Dina, das Instrumentarium durchaus fort, mit dem es möglich ist, durch Armee oder Juntabefehl alle Repressionsmaßnahmen in Bewegung zu setzen, unter denen weite Teile der Bevölkerung seit 1973 ebenso gelitten haben, wie andere Teile der Bevölkerung unter der Willkür Allendi-scher Politik gelitten hatten.

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