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Zwischen Chile und Moskau

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Den Kontroversen der jüngsten Zeit kann man nicht ausweichen, weil sie allen gerecht denkenden Menschen auf der Seele lasten. Ich meine den Militärputsch in Chile und die Repression gegen die dissidenten Intellektuellen in der Sowjetunion. Die Proteste, die überall laut geworden sind, bestätigen die Tatsache, daß die Welt eine Art politisch-moralische Einheit geworden ist; über alle Grenzen und Unterschiede hinweg dringen in unserer Zeit die Informationen zu einer Vielzahl von Menschen, wie noch nie in der Vergangenheit. Nichts oder nur weniges bleibt heutzutage verborgen.

Grundsätzlich ist zu sagen, daß Terror, Parteijustiz, Polizeimaßnahmen gegen Andersdenkende und Verfolgung für Meinungsdelikte keine Farbe haben. Sie können von ideologisch entgegengesetzten Seiten kommen. Es gibt nicht eine gute und eine böse Unterdrückung, eine berechtigte und eine verwerfliche Repression. Terrormethoden sind verwerflich, woher sie auch kommen mögen. Wer Befriedigung darüber empfindet, daß ein ihm nicht genehmer Mann und eine ihm nicht genehme Partei grausamer Verfolgung zum Opfer gefallen sind, verstößt gegen elementare Grundsätze der Menschlichkeit. Unter den zahlreichen Diskussionen, die den Militärputsch in Chile und die Repression gegen sowjetische Intellektuelle zum Gegenstand hatten, möchte ich als ein Beispiel für viele die Debatte im italienischen Parlament herausgreifen. Alle Parteien waren

sich mit Ausnahme der Neo-faschisten in der Verurteilung des Militärputsches in Chile einig. Außenminister Aldo Moro schloß sich dieser Verurteilung an und lehnte eine Anerkennung des neuen Regimes in Santiago ab. Doch ließ er durchblicken, daß mit der Zeit die Vorgänge in Chile sich vielleicht beruhigen könnten.

Für alle Regierungen stellt sich in solchen Fällen die Frage, ob und in welchem Maß es ihnen möglich ist, normale Beziehungen von Staat zu Staat aufrechtzuerhalten. Allerdings ist die Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse anderer Staaten eine Faustregel der internationalen Beziehungen. Aber wir leben heute in einer Welt, wo infolge des Näherrückens der Völker und Menschen und infolge der gemeinsamen Staatsinteressen, die in unzähligen Verträgen und in den Statuten der Weltorganisation — insbesondere in der UNO-Charta und in der Menschenrechtsdeklaration — verbrieft sind, diese Regel keine unbeschränkte Gültigkeit mehr hat. Wenn bei einem Partnerstaat die elementarsten Menschenrechte, eine auf anerkannten Grundsätzen beruhende Rechtspflege und zivilisierte politische Sitten nicht vorhanden sind, ist es unvermeidlich, daß die normalen und moralisch-völkerrechtlich vertretbaren Beziehungen gestört oder in Frage gestellt sind.

Was immer in Chile unter dem Präsidenten Allende und den Parteien der Volksunion an politischer Unklugheit, an Unvorsichtigkeit des Vorgehens, an Ungeduld und Disziplinlosigkeit innerhalb der Regierungskoalition selbst sich ereignet haben mag: eine Lösung der inneren Spannung und eine Beilegung des Konfliktes zwischen der Regierung und der oppositionellen Parlamentsmehrheit hätte in anderen Formen gefunden wer-

den müssen. Chile besaß eine vom Volk und allen Parteien anerkannte, gut funktionierende Verfassung und eine demokratische Tradition, die nicht ohne weiteres durch eine Militärdiktatur aus der Welt geschafft werden kann. Im Unterschied zu anderen südamerikanischen Republiken spielte das Militär in der Vergangenheit keine politische Rolle in Chile. Auch die gegen Allende in Opposition stehenden Christiich-Demokraten haben gegenüber dem Staatsstreich der Generäle schwere Bedenken geäußert — worauf sie, wie alle anderen Parteien, von ,den neuen Macht-habern verboten wurden. Aber wie wird die Zukunft in einem Lande aussehen, wo der Widerstand gegen die Putschisten nicht ausbleiben wird?

Was die Repression gegen die dissidenten Intellektuellen in der Sowjetunion betrifft, so wurde sie in der erwähnten Debatte im italienischen Parlament auch von den kommunistischen Rednern scharf verurteilt. Die Christdemokraten verlangten von der Regierung, daß Italien in der UNO oder vor der Genfer Sicherheitskonferenz seine Stimme zugunsten der sowjetischen Intellektuellen erhebe. Auch Außenminister Moro verurteilte die Verletzung der Menschenrechte durch Moskau. Aber diese Verurteilung, sagte er, dürfe den “ Entspannungsprozeß zwischen der westlichen und östlichen Welt nicht aufs Spiel setzen und in dieser heiklen Phase nicht das wachsende Verständnis zwischen den Völkern gefährden.

Soviel ist sicher, daß es heute

keinen klaren Trennungsstrich zwischen Politik und Kultur mehr gibt. Die Frage drängt sich unvermeidlich auf, warum ein Sozialstaat seinen Bürgern nicht soviel Freiheit einräumen kann wie zum Beispiel Schweden? Auch die Frage, weshalb 55 Jahre nach der russischen Revolution das Regime Furcht hat vor der freien Meinung seiner Bürger und der Kritik seiner Schriftsteller und Gelehrten.

Gegenwärtig stehen die offiziellen Beziehungen zwischen den Staaten des Westens und denjenigen des Sowjetblocks in einem auffallenden Gegensatz zu den Begehren ihrer Dichter und Denker. Die Regierungen werden ihre Entspannungsbemühungen durch diese Proteste nicht stören lassen. Ich gebe ihnen darin nicht unrecht. Die großen Staaten im Westen und Osten müssen trachten, neue Katastrophen, wie sie die Welt heimgesucht haben, zu verhindern. Überdies haben sie gemeinsame politische Interessen und vorteilhafte Möglichkeiten der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit entdeckt. :

Die Regierungen der großen Mächte sollen zweifellos für Sicherheit und Stabilität sorgen. Den denkenden und geistig schaffenden Menschen aber darf es nicht verwehrt sein, von ihnen Formen des internationalen Zusammenlebens zu fordern, die nicht nur politisch und materiell, sondern s auch substantiell und qualitativ akzeptabel sind. Zwischen den Vertretern der Wissenschaft, Literatur und Kunst ist eine Zusammenarbeit nur möglich, wenn die Freiheit der Meinung und der Information und die Freizügigkeit im menschlichen Verkehr über die Grenzen gewährleistet sind. Diesem Begehren können die Regierungen im Interesse des Friedens und der Sicherheit auf die Dauer das Ohr nicht vierschließen.

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