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Lateinische Dominosteine

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Der nordamerikanische Außenminister Henry Kissinger hat seinem argentinischen Kollegen Angel Fe-derico Robledo erklärt, daß ein erneuter Bruch der Legalität in dessen Land das Ende der Stabilität für ganz Lateinamerika bedeuten könnte. Damit wendet er auf Südamerika die „Domino-Theorie“ an, nach der sich Machtverlagerungen in einem Lande automatisch auf die Nachbarländer auswirken.

Auf dieses Konzept war die verhängnisvolle Intervention der Vereinigten Staaten in Indochina zurückzuführen. Auf ihm beruht auch die Sorge, daß ein Sieg der Kommunisten in Portugal Südeuropa in den linksradikalen Moskau-Sog ziehen könnte.

Diese „Domino-Theorie“ widerspricht der lateinamerikanischen Realität. In den interamerikanischen Kollektivverträgen ist zwar die „repräsentative Demokratie“ zum Ziel aller Länder proklamiert worden. Dabei ging man davon aus, daß diese Regierungsform nicht nur die individuellen Rechte der Bürger am besten sichere, sondern auch die politische und wirtschaftliche Stabilität gewährleiste. Seit Jahrzehnten ist dieses Postulat nicht so allgemein mißachtet worden wie gerade jetzt. Südlich des Äquators gibt es in Lateinamerika fast keinen Staat, in dem nicht de facto die Offiziere Exekutive, Gesetzgebung und Justiz manipulierten.

Gleichzeitig wird freilich die These entkräftet, daß demokratischere Formen die Stabilität steigern. Das einzige Land der Zone, in dem formell eine echte demokratische Verfassung befolgt wird, ist Argentinien. Mit umkämpften Trägern der Regierungsgewalt, täglichen Terrormorden von Links und Bechffeiner Ma^p^inflation .von ~\—hv.u wniiv • ' .i'übu.culi,., vvv mehr als 200 Prozent und alarmierendem Währungsverfall stellt diese „Demokratie“ das unstabilste Land ganz Südamerikas dar.

In den Nachbarstaaten gibt es kein echtes Parlament, keine freien Gewerkschaften, keine freie Presse — aber auch keine Guerilla. Vom westdemokratischen Standpunkt aus mag man zuweilen mit Recht von einer „Friedhofsruhe“ sprechen. Aber obwohl der brasilianische Präsident General Ernesto Geisel weiter mit dem Zaunpfahl des „Verfassungsaktes Nr. 5“ winkt, mit dem er jedem Staatsbürger die politischen Rechte auf zehn Jahre ohne Angabe von Gründen entziehen kann, zeigt das Land völlige Ruhe und einen frappierenden wirtschaftlichen Aufschwung, mag dieser auch nur 20 Prozerrt der Bevölkerung zugutekommen. Die älteste Diktatur Lateinamerikas, Paraguay, hat die festeste Währung, den Guarani.

Der Angsttraum, den die „Domino-Theorie“ verursacht, beruht auf der Vorstellung, daß der Zusammenbruch demokratischer Regime und das Eindringen kommunistischer Kreise in das dadurch entstehende Vakuum den Weg für die sowjetische Expansion öffnen. Diese Gefahr schien durch den Erfolg und die Orientierung der kubanischen Revolution gerade auch für Lateinamerika gegeben zu sein. Zwar versuchten die „Revolutionäre Volks-Vorhut“ („VPR“) des Brasilianers Carlos Maringheia, des Theoretikers der blutigen Stadt-Guerrilla, versuchte die „Linksrevolutionäre Bewegung“ („MIR“) in Chile, versuchten die „Tupainaros“ in Uruguay und versuchen noch heute das trotzkistische „Revolutionäre Volksheer“ („ERP“) und die linkspero-nistischen „Montoneros“ in Argentinien durch organisierten Terror in das Vakuum schwankender demokratischer Regime vorzustoßen und im Chaos linksrevolutionäre Regierungen an die Macht zu bringen.

Einzelfall der kubanischen Revolution wiederholen und die Utopien Che Guevaras verwirklichen könne, ist überholt. Die Guerrilla hat genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen wollte. Sobald die Offiziere in der bürgerkriegsähnlichen Tätigkeit der Guerrilleros oder der zum Kommunismus tendierenden Regierungspolitik (in dem Brasilien Goularts vor 11, in dem Chile Allendes vor zwei Jahren) die Gefahr linksradikaler Machtergreifung auch nur zu spüren glaubten, übernahmen sie — offen oder versteckt — die Herrschaft. Auch für Argentinien liegt bei einem Fehlschlag der „peronistischen Demokratisierung“ die Alternative nicht in einem Linksregime ä la Kuba, sondern in der Entscheidung zwischen einer rechten Militärregierung nach brasilianischem oder einer linken nach peruanischem Modell.

Die „Domino-Theorie“ wird für Lateinamerika aber auch durch die geringe ideologische Ansteckungsgefahr zwischen den Nachbarstaaten widerlegt. Seit der Unabhängigkeit wechseln in fast allen lateinamerikanischen Ländern die Regime in unregelmäßigen Abständen, in zahlreichen Schattierungen zwischen Demokratie und Diktatur. Venezuela und Kolumbien, die heute echte Demokratien sind, waren jahrzehntelang Tummelplatz hemmungsloser Diktatoren. Gleichzeitig gab es lange Perioden hindurch demokratische

Regime in Brasilien und Argentinien. Während Perön in seiner ersten Periode als Militärdiktator sehr umstritten regierte, wagte das kleine uruguayische Nachbarland, das seine Sicherheit von Washington und Rio de Janeiro garantiert sah, einen sehr aktiven Widerstand gegen das große Argentinien. Die „Musterdemokratien“ Lateinameri--kas — Uruguay und Chile — sind nicht durch brasilianischen oder paraguayischen Einfluß zu offenen oder verschleierten Militärregimen geworden, sondern weil die „Tupa-maros“ in Uruguay und Allende in Chile die antikommunistische Reaktion hervorriefen. Der ideologische Kontrast zwischen der chilenischen und der peruanischen Militärregierung weist in die gleiche Richtung.

Nun läßt sich nicht bestreiten, daß es in der ersten Nachkriegszeit mehr Demokratien und weniger Militärdiktaturen in Lateinamerika gab als heute. Das beruht aber nicht auf direkter oder indirekter Einwirkung aus Nachbarländern, sondern darauf, daß sich mit dem Zerfall demokratischer Regime oder dem Vorrücken revolutionärer Terroristen in den meisten Staaten gleichzeitig ähnliche Verhältnisse entwickelt haben. Auch mag es eine Rolle spielen, daß die Vereinigten Staaten, die nach dem Weltkrieg das antidikta-toriale Weltbild verbreiteten, durch den Vietnam-Krieg an Glaubwürdigkeit und Einfluß verloren haben.

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