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Die Asphaltguerillas

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Die Stadtguerillas, wegen ihrer Kampfmethoden zumeist als „städtischer Terrorismus” apostrophiert, haben erst im Ausgang des „castristischen Jahrzehnts”, vor allem nach der Krise der ländlichen Guerillas — in ihrer letzten Etappe ausgelöst durch das Bolivienabenteuer Guevaras — eine gewisse Bedeutung gewonnen.

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Die Stadtguerillas, wegen ihrer Kampfmethoden zumeist als „städtischer Terrorismus” apostrophiert, haben erst im Ausgang des „castristischen Jahrzehnts”, vor allem nach der Krise der ländlichen Guerillas — in ihrer letzten Etappe ausgelöst durch das Bolivienabenteuer Guevaras — eine gewisse Bedeutung gewonnen.

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Bis 1967, dem Jahr der letzten konzentrierten castristischen Aktion, war keine Änderung des Verhältnisses der Guerillas in den Bergen zur Guerilla urbana festzustellen: In der von Guevara geleiteten Aktion in Bolivien wurden die zur „Arbeit in der Stadt” abkommandierten Mitglieder vornehmilich mit Transport-, Versorgungs-, Erkundigungs- und Propagandaaufgaben betraut, nach genauen Instruktionen des Guerillachefs. An eine städtische Guerilla im eigentlichen Sinne war zumindest vorerst nicht gedacht. Guevaras Stadtnetz in La Paz konnte allerdings nicht einmal diese begrenzten Aufgaben erfüllen.

Erst der Zusammenbruch der Guerilla in Bolivien und die tiefe Krise der ländlichen Guerillas, die — politisch wie militärisch bedingt — mehr oder minder gleichzeitig in den wenigen lateinamerikanischen Ländern manifest wurde, in denen Guerillas noch aktiv waren, führte zu einem gewissen Aufschwung des bewaffneten Kampfes in den Städten, vor allem in einigen Hauptstädten Lateinamerikas. Doch nur in einem einzigen Land, in dem eine „klassische” castrische Guerilla bestand, in Guatemala, kam es sukzessive zu einer Verlagerung der Aktivitäten aus den Provinzen in die Hauptstadt. In allen übrigen Ländern, in denen ‘die Stadtguerilla auf den Plan trat, hatte es zuvor keine nennenswerte ländliche gegeben.

Die Stadtguerilla agiert in Latedn- amęrifoa unter politischen und sozialen Bedingungen, die sich — theore tisch — als günstig für die Breitenwirkung ihrer Aktionen erweisen könnten: In weit bedeutenderem Ausmaß als in entwickelten Staaten anderer Kontinente ist in Lateinamerika die Hauptstadt politisches und soziales Zentrum des Landes und — nicht zuletzt in Anbetracht der sozialem Begleiterscheinungen einer ungeplanten, unaufhaltbaren und rasanten Verstädterung — neuralgischer Knotenpunkt des öffentlichen Lebens, der auf Aktionen jeglicher Art intensiv zu reagieren vermag und Kettenreaktionen politischen wie sozialen Charakters aus- lösen kann. Besonders in minderentwickelten Staaten des Kontinents ist das Gebiet der Hauptstadt überhaupt das einzige, das als pays politique bezeichnet werden kann. Vornehmlich in den Hauptstädten konzentriert sich unter oft infra- humanen Lebensbedingungen das Subproletariat. Die ranchitos, favelas, tugurios, calampas und ähnlich bezeichneteten Elendsquartiere, die die lateinamerikanischen Metropolen buchstäblich umzingeln, kämen theoretisch als Reservoir und Kampfplatz der Stadtguerilla — wie jeder anderen revolutionären Bewegung — in Betracht. In den Hauptstädten gibt es Universitäten mit ihrem schon sprichwörtlichen Revolutionspotential, gibt es Gewerkschaftszentralen und mit- gliederstarke gewerkschaftliche

Grundorganisationen, die unter Umständen an Massenaktionen teil- nehmen könnten, die von Stadtguerillas ausgelöst würden.

Eine ‘britische Analyse der Stadt- guerilla (The Economist para America Latina, 1970) weist auf Tendenzen der neuen Form des „bewaffneten Kampfes” zu Massenaktionen und zu einer Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsbewegungen hin, die in den im weiteren behandelten Ländern oppositionell und zuweilen offen regierungsfeindlich eingestellt sind. Bis zur Zeit der Niederschrift findet der Beobachter indessen kaum Anhaltspunkte für eine solche Politik. Es muß vielmehr hervorgehoben werden, daß die Stadtguerilla bisher noch nicht vermocht hat, ihren elitären Charakter zu überwinden (der allerdings zweifellos auch durch die Art der Aktivität des Guerrillero urbano bedingt ist und kaum geändert werden kann) und daß sie den Schritt vom militaristischen fo- quiismo zur „bewaffneten Propaganda”, die Massenaktionen stimulieren könnte, noch nicht richtig vollzogen hat.

Trotz den eingangs angedeuteten theoretischen Möglichkeiten zur Schaffung einer Massenbasis spricht die tatsächliche Situation eine ganz andere Sprache: Die Gewerkschaften, auch wenn sie — wie in Brasilien, Argentinien und Uruguay, den einzigen drei Ländern, in denen die Stadtguerilla Bedeutung erlangt hat — mehr oder minder regierungsfeindlich eingestellt sind, konzentrieren sich vornehmlich auf ökonomische Belange, unter einer Führungsschicht, die in die ,.staatstragenden” Kreise integriert ist, wenn auch eben als offene oder verdeckte Opposition. Am „Ökonomismus” der Gewerkschaften und an der erwähnten Integration ihrer Leitung ändert sich auch dann nichts, wenn sie — wie im Falle Uruguays — majoritär von KP-Kadem beherrscht werden.

Fehlendes Revolutionspotential

Das Suibproletariat wiederum stellt alles andere als ein Revolutionspotential dar. Im Gegerfteil; das aus dem Landesinneren in die Stadt strömende bäuerliche Element kommt aus sozialen und zumeist auch zivilisatorischen Verhältnissen, welche oft weit unter jenen liegen, die sie in den Elendssiedilungen erwarten. Der — in vielen Fällen wirkliche — Aufstieg des rechtlosen, analphabetischen Landarbeiters zum analphäbetischen Subproletarier der Stadt mit ihren — im Vergleich zu den Herkunftsgebieten des Subproletariats — „unbegrenzten Möglichkeiten” löst folglich in den Elendsvierteln’ der städtischen Peripherien politische und soziale Reaktionen aua, die den Revoiutions- plänen der Guerilla zumeist extrem entgegengesetzt sind. Dieses Bild mag sich womöglich mit der Zeit ändern, doch ist das für unsere Betrachtung der heutigen Lage irrelevant.

Verbleibt die Universität, die der städtischen Guerilla wie seinerzeit der ländlichen in der Regel . als Rekrutierungsbasis und politisch- propagandistischer Resonanzboden dient, spontan und — zumindest nach außen hin — ahne straffere Organisation. Die Stätte der Elitebildung wird zum Gravitationsfeld der elitären Stadtguerillas, der „Politiker der Tat”. Doch dieses faktische oder zumindest potentielle Guerilla- Rėseau ist quantitativ begrenzt und kann verhältnismäßig leicht unter Kontrolle gehalten werden: Wie in verschiedenen empirisch-soziologischen Studien schon bewiesen wurde, bilden die radikalen Studenten an allen Universitäten nur kleine Minderheiten.

Die Stadtguerilla ist weitaus verletzbarer als die Berg- und Waid- guerilla, und dies vornehmlich aus zwei Gründen: Zum ersten bringen es der elitäre Charakter der Stadtguerilla, ihre Aktionsformen und schließlich auch die Erbschaft der Debray-Ideologie von der Exklusivität des Focus, die mehr oder minder wissentlich von den Guerilleros der Stadt rezipiert und ihren Verhältnissen angepaßt worden ist, mit sich, daß die Stadtguerilla kein eigentliches politisches Hinterland besitzt. Die Guerilla arbeitet mit keiner politischen Partei und keiner „zivilen” Gruppierung zusammen, Obwohl sie beispielsweise der Sympathie oastriistischer Gruppen sicher sein kann; sie steht in offensichtlich negativem Verhältnis zum kommunistischen „Traditionallismus”, das heißt: zu den prosowjetischen Kommunisten, und läßt es an einem ideologischen Appeal, der politische Gruppierungen überhaupt ansprechen könnte, weit mehr fehlen als die ländlichen Guerillas in den vergangenen Jahren. Damit ist die Stadtguerilla vereinsamt. Sie schützt sich dadurch zwar effektiver vor politischer Manipulation, vor Infiltration und Verrat, doch andererseits kann siie in relativ begrenzten Unterdrückunigsoperationen dezimiert und schließlich ausgelöscht werden.

Der zweite Grund der Verletzbarkeit von Stadtguerillas ist technischer Art: Auf einem geographisch begrenzten Gebiet zusammengedrängt, genießt die Stadtguerilla nicht nur den Schutz einer repressionstechnisch schwerer übersichtlichen Agglomeration,, sondern sie befindet sich auch eo ipso in stetiger Gefahr des Entdecktwerdens. Diese Gefahr kann ■ durch technische und Organisationsmaßnahmen der Guerilla nur unzulänglich verringert werden, und so ist auch die — reale oder politische — „Sterblichkeitsrate” der Stadtguerilla außerordentlich hoch. Als tragisches Aperęu ist dazu noch zu vermerken, daß Diktaturen mit ihrem Kontroll- und Überwachungssystem weit größere und raschere Erfolge ‘bei der „Pazifizierung” der Stadt erzielen als Demokratien. Der Vergleich zwischen Brasilien und Uruguay erbringt den schlagenden Beweis.

Milieu der Bürgerlichkeit

Die Stadtguerillas rekrutieren Bich ebenso wie seinerzeit die in ländlichen Distrikten operierenden Freischärler vornehmlich aus den Mittelschichten. Das studentische Element überwiegt zwar, doch scheinen sich in die Stadtguerillas viel mehr Angehörige freier Berufe, Beamte und höhere Angestellte integriert zu haben als in die Guerilla des Guevara-Typs. Dies hängt damit zusammen, daß diese Schichten in der städtischen Guerilla ihr revolutionäres Wollen besser mit ihren existentiellen Gegebenheiten und Notwendigkeiten vereinen können als in der ländlichen Guerilla, wo ein Anschluß an die in den Bergen und Urwäldern lebenden Freischärler automatisch dem ^bürgerlichen Tod” bedeutete. Im Rahmen der Stadtguerilla kann der im Erwerbsleben stehende Kombattant ein Doppelleben führen, und oft muß er es sogar. Dies trifft ebenfalls auf den Studenten zu, der allerdings aus psychologischen und sozialen Gründen eher bereit ist, die Brücken hinter sich zu verbrennen und für die Revolution den „bürgerlichen Tod” zu erleiden als der in die bürgerliche Gesellschaft integrierte „profesionista”. Jedenfalls gehört der Proletarier oder gar der Subproletarier in der Stadtguerilla zur sozialen Ausnahme, auch wenn Carlos Marighela, einer der Schöpfer der Stadtguerilla in Brasilien, von den Kombattantemgruppen als einer „Allianz von Arbeitern, Bauern und Studenten” spricht.

Bei den Aktionen der städtischen Guerillas sind zweierlei Typen zu unterscheiden: Waffendiefostähle,

Banküberfälle und die Entführung von Personen mit dem Ziel der finanziellen Erpressung dienen vor allem der Vorbereitung eigentlicher militärisch-politischer Aktionen, auch wenn sie selbstredend ein eigenes politisch-propagandistisches Gewicht aufweisen. Mit diesen Aktionen verschaffen sich die Guerillas die technischen und finanziellen Voraussetzungen ihrer Hauptaktionen oder — zum Beispiel durch zeitweilige Besetzung von Funkstationen — propagandistische Vorteile.

Die eigentliche Aktivität bilden vor allem Überfälle auf Sicherhedts- ongiane und Militärposten, individueller Terror in Form von Attentaten und Morden gegen „natürliche” (Polizisten, Geheimdienstler usw.) oder politische Gegner, Säbotageaktianen mit dem Ziel, die Gesellschaft ökonomisch zu schädigen und propagandistisch zu bearbeiten, Entführungen, um die Regierungsorgane zu von der Guerilla diktierten Maßnahmen zu bewegen, und ähnliches.

Diese Art der Aktivität stellt die Stadtguerilla in gefährliche Nähe des Gewaltverbrechertums. Wie aus einigen Guerillamateriaiien hervorgeht, sind sich die städtischen Freischärler dieser Gefahr bewußt, die sie Indessen nicht umgehen, ja nicht einmal begrenzen zu können vermeinen. Mit der Entwicklung der städtischen Terroraktivitäten in den letzten Jahren, in denen sich immer mehr Morde und brutale Verschleppungen häufen, wird es auch für den eingeweihten Beobachter zusehends schwieriger, eine Grenze zwischen der sogenannten .legitimen” politischen Aktion linker Extremisten und politisch kaschiertem Verbrechertum zu ziehen. Die ungeheuerliche Verrohung der politischen Aktion, die schon bei allen ländlichen Guerillas fesfczustellen war, manifestiert sich bei der Guerilla urbana noch weitaus stärker.

Die bisherige Geschichte der Stadtguerilla hat freilich gezeigt, daß den Guerilleros bisher nur eine Radikalisierung der Gegenseite gelungen ist, die sich im Fälle Uruguays und Argentiniens zudem noch in Grenzen hält. Eine nennenswerte Schwächung der Regime, in denen Stadtguerillas aktiv sind — es handelt sich dabei sowohl um Diktaturen als auch um Demokratien —, kann nach bisherigen Erfahrungen durch die Guerilleros der Metropolen nicht erreicht werden, von allen anderen strategischen Zielen ganz abgesehen.

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