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Der Oberste Gerichtshof Chiles hat kürzlich das Verfahren gegen Ex-Diktator Pinochet endgültig eingestellt. Doch die Vergangenheit lässt das Land nicht los.

Nun steht es wohl endgültig fest: Augusto Pinochet kommt ungeschoren davon, der chilenische Ex-Diktator muss für seine Gräueltaten nicht mehr büßen. Die Gerichtsmedizin attestierte ihm Anfang Juli eine schlechte gesundheitliche Konstitution, das Oberste Gericht Chiles folgte dem und erteilte Pinochet die Absolution.

Dabei hatte es vor vier Jahren noch danach ausgesehen, als ob die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur entsprechend geahndet würden: Pinochet lag ahnungslos im Krankenbett in London, als ihn die Gerechtigkeit einzuholen schien und der Versuch in Angriff genommen wurde, ihn fernab von seiner Heimat zur Verantwortung zu ziehen. Der Zwangsaufenthalt in Europa wird Pinochet zwar viele schlaflose Nächte bereitet haben, doch schließlich geriet das Ganze zur juristischen Farce. Der Diktator reiste unbehelligt wieder nach Hause, Chile schimpfte über die Einmischung Europas und wies darauf hin, dass es selber eine funktionierende Justiz habe, um das Problem zu lösen. Nun ist es gelöst worden - genau so, wie alle es erwartet haben.

In den westlichen Staaten spricht und weiß man recht viel über die Menschenrechtsverletzungen des Militärregimes. Man weiß auch, dass Pinochet eine demokratisch gewählte Regierung mit Unterstützung der Vereinigten Staaten unsanft gestürzt hat. Gut, man hat das verurteilt, doch hat die westliche Welt übersehen oder vielleicht ganz einfach ignoriert, dass die Diktatur nicht nur aus Folter, Mord und Exil bestand, sondern Pinochet eine (Wirtschafts-)Politik machte, die die chilenische Gesellschaft in der Folgezeit entscheidend prägen und polarisieren sollte.

Chicago boys

Denn nach den Reformbestrebungen der Staatspräsidenten Eduardo Frei und Salvador Allende in den sechziger und siebziger Jahren, die um soziale Ausgewogenheit kämpften, liberalisierte Pinochet die Wirtschaft nach dem Vorbild des großen Bruders, der USA; in Chicago ausgebildete chilenische Ökonomen übernahmen das Ruder. Zwar stiegen die Wirtschaftszahlen fast kontinuierlich, doch konnten diese nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Großteil der Gewinne in die Taschen amerikanischer sowie chilenischer Magnaten wanderte, 1982 über 30 Prozent Arbeitslosigkeit herrschte und gegen Ende der Diktatur über 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Die soziale Kluft weitete sich rapide.

Der zweite kalkulierte Schritt von Pinochet war die Schaffung einer offiziellen juristischen Legitimation seiner Herrschaft. Er ließ 1980 die Verfassung zu seinen Gunsten und jenen der ihm willfährigen Institutionen wie Heer oder Polizei modifizieren.

Zwölf Jahre sind bereits seit dem Abdanken des Militärregimes und der Öffnung der demokratischen Pforten in Chile vergangen. Bei den Wahlen 1989 setzte sich die "Concertación", ein Mitte-Links-Bündnis (Christdemokraten und sozialistische Gruppierungen), gegen die Rechts-Koalition (Konservative und Liberale) klar durch und hielt diese Mehrheit bis heute. Doch die Strukturen der Diktatur haben das Land derart durchwachsen, dass vieles gleich geblieben ist. Natürlich gibt es keine Folterungen mehr, dürfen Meinungen geäußert werden, wird die politische Freiheit nicht mehr eingeschränkt. Doch "das Werk der Militärdiktatur findet jetzt noch fruchtbaren Boden, weshalb wir heute eine soziale Ungleichheit erleben, deren Ausprägung schlimmer ist als jene im 19. Jahrhundert", urteilt ein Historiker der Staatlichen Universität.

Das Durchschnittseinkommen beträgt etwa 500 Euro, es gibt eine 48-Stunden-Woche, drei Wochen Urlaubsanspruch pro Jahr, keinen Kündigungsschutz und überhaupt so gut wie keine Rechte gegenüber dem Arbeitgeber. Kein Wunder, dass es in Santiago nur so von Straßenhändlern wimmelt, die vor der Abhängigkeit und Willkür der Unternehmer flüchten. Und wie soll ein Kind eines einfachen Arbeiters eine Universität besuchen können, wenn ein Studium pro Semester 1.000 Euro und mehr kostet. Bildung oder auch das Gesundheitswesen unterliegen dem freien Wettbewerb - und haben ihren Preis.

Angst vor neuem Pinochet

"Chile hätte nichts Besseres passieren können: ein neoliberaler Staat, gelenkt von Sozialisten", bemerkt sarkastisch der chilenische Schriftsteller Nicanor Parra. Es gelang der Regierung zwar, die Armut um die Hälfte zu verringern, doch die Ideologie der "Großen Väter" der "Concertación", Salvador Allende und Eduardo Frei Montalva, ist dem Neoliberalismus gewichen. Die "Concertación" hat einen Rechtsruck durchgemacht - vielleicht auch aus Angst vor einem neuen Pinochet.

Der Regierung sind zudem die Hände zum Teil gebunden. Zwar stellen die Linksparteien den Staatspräsidenten und besitzen eine einfache Mehrheit im Parlament, doch die Konstitution von 1980 schränkt ihre Macht erheblich ein. So gewährt die Verfassung einigen rechtsstehenden Institutionen fixe Sitze im Senat. Verfassungsänderungen werden schon seit langem erfolgreich von der Pinochet-freundlichen Opposition abgewehrt, die in den letzten Jahren bei Senats- und Parlamentswahlen gut abgeschnitten hat. Als das erste eingeleitete Verfahren gegen Pinochet 2001 unter Hinweis auf seine labile Konstitution eingestellt wurde, meinte man, die Justiz werde noch immer von ihm kontrolliert. Öffentliche Protestkundgebungen gab es damals kaum - und die wenigen verpufften: Das Regime hatte das Volk gelehrt, sich ruhig zu verhalten - eine "Tugend", die die Menschen bis heute nicht abgelegt haben.

Die Gewinner der Diktatur

Die chilenische Gesellschaft ist gespalten: Die Gewinner der Pinochet-Ära bewundern den Ex-Diktator bis heute, wählen die Konservativen oder Liberalen, besuchen jeden Sonntag die Heilige Messe, während zu Hause eine billige Arbeitskraft ihr Auto schrubbt. Ihre Kinder besuchen eine noble Universität, schreiben eine Dissertation in England und übernehmen später die Anwaltspraxis des Vaters. Der Rest der Bevölkerung - sowohl die Mittel- als auch die Unterschicht - naschte kaum merklich vom Wirtschaftskuchen oder kam gar unter die Räder. Die Mehrheit lebt mit bescheidenen Annehmlichkeiten, ohne soziale Absicherung. Die Unterschicht muss ums tägliche Brot kämpfen, die Perspektiven ihrer Kinder sind trüb.

Wohin wird der Weg Chiles führen? Bei den Präsidentenwahlen 1999 besiegte der Sozialist Ricardo Lagos, seinerzeit ein Mitstreiter von Allende, den konservativen Kontrahenten Joaquín Lavin äußerst knapp. Lavin, Populist, Mitglied des Opus Dei, ein ehemaliger Mitarbeiter von Pinochet und derzeitiger Bürgermeister von Santiago, schafft es, die Bevölkerung aufzustacheln. Die seit vier Jahren anhaltende Wirtschaftskrise, die hohe Arbeitslosigkeit von neun Prozent machen der Regierung zu schaffen. Hinzu kommen die negativen Auswirkungen des Bankrotts im Nachbarland Argentinien. Prompt verpasste die Bevölkerung der Regierung bei den Parlaments- und Senatswahlen im Dezember 2001 einen schmerzlichen Denkzettel (insbesondere den Christdemokraten). Die Mehrheit im Parlament konnte noch verteidigt werden, allerdings fiel jene im Senat, weshalb sich Reformen in Zukunft wohl noch schwerer durchsetzen lassen werden. Der Präsident reagierte rasch und tauschte die halbe Regierung aus. Bis 2005 bleibt der "Concertación" Zeit, das Ruder herumzureißen; derzeit gilt Lavin schon als der sichere Nachfolger von Lagos.

Der Autor ist Dissertant über Eduardo Frei Montalva an der Uni Wien (Forschungsaufenthalt von einem Jahr in Santiago de Chile 2000/2001).

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