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Ein zweites Kuba?

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Man muß abwarten, mit welchem Recht Dr. Allende, der alle Chancen hat, nach dem 4. November in Chile als der erste freigewählte „marxistische Präsident“ in der westlichen Welt an die Macht zu kommen, den Vornamen „Salvador“ („Retter“) trägt. Jedenfalls war sein Sendungsbewußtsein schon ausgebildet, als er im Jahre 1932 — mit dem Beinamen „El Chico“ („Der Kleine“) — von einem chilenischen Kriegsgericht wegen revolutionärer Umtriebe ins Gefängnis gebracht wurde, das er zur Beerdigung seines Vaters auf eine Stunde verlassen durfte. Er gehörte damals zu den Mitgründern der sozialistischen Partei, wurde Chirurg und Gerichtsarzt; 1939 wurde er Gesundheitsminister im Volksfront-Kabinett von Pedro Aguirre Cerda, blieb abwechselnd Deputierter und Senator und war fünf Jahre während der jetzigen Frei-Regierung Präsident des chilenischen Senats.

Er entspricht gewiß nicht den Vorstellungen, die „man“ sich von einem lateinamerikanischen Revolutionär macht Er ist mit einer sehr reizvollen Dame, Hortensia Bussi, verheiratet, die sehr aktiv an der letzten Wahlkampagne teilnahm. Er hat drei Töchter, Isabel, Soziologin, Carmen Paz, Professorin, Beatriz, Ärztin, und zwei Enkel. Er kaufte den Kindern ein schönes Motorboot. Er besitzt ein Haus in Algarrobo und ein Landhaus in Providencia. Allende ist Kunstsammler; sein Haus ist voll wertvoller Bilder und zahlloser Holz-, Stein- und Elfen-beinflguren, die er von seinen Weltreisen mitgebracht hat Er ist für gewöhnlich besonders elegant gekleidet, lehnte es aber ab, beim Empfang der englischen Königin im Frack zu erscheinen. Er will ihn auch, entgegen der Tradition, bei der Regierungsübernahme nicht tragen.

Antiimperialismus

Allende hat im vorigen Jahr Nordvietnam, Volkschina, Nordkorea und — nicht zum ersten Male — die Sowjetunion und Kuba besucht. Seine Sozialisten stehen links von der moskautreuen kommunistischen Partei Chiles; er schwankt zwischen Castroismus und Maoismus, obwohl er — mindestens vorläufig noch — gemäßigt auftritt. Seine Bemühungen, eine gemeinsame Basis mit den Christdemokraten zu finden, ist um so bezeichnender, als er einer der führenden Freimaurer des Kontinents ist. Allende erklärte unmittelbar nach seiner Wahl, das chilenische Volk wolle auf verschiedenem Wege zu demselben Ziele wie Kuba gelangen. Freilich sagt er abwechselnd, er wolle Chile zum zweiten sozialistischen Staat Amerikas machen und, daß er kein „marxistisches Regime“ einführen wolle. Er beabsichtigt, die Verfassung zu ändern und eine Volkskammer als Parlament einzusetzen, die den Obersten Gerichtshof (!) wählen soll. Nach seinen Plänen sollen die Grundindustrien nationalisiert werden. Die gesamte Kupfer-, Eisen- und Kohlenproduktion soll verstaatlicht werden. Aber auch die Banken (vor allem die First National City Bank), die Versicherungs- und Transportgesellschaften (Grace & Co.) und die Massenmedien sollen weder den ausländischen noch den inländischen Privatfirmen gehören dürfen. Von besonderer Bedeutung ist der Plan, die Zeitungen und Rundfunkanstalten ihres kommerziellen Charakters zu entkleiden und an Genossenschaften der Arbeitnehmer zu übertragen. Darüber hinaus soll der Staat das Monopol des Außen- und des Devisenhandels übernehmen. Auf derselben Ebene liegt es, wenn er die Beziehungen zum Weltwährungsfonds abbrechen, in der „Organisation amerikanischer Staaten“ gegen die Vorherrschaft des nordamerikanischen Einflusses kämpfen und die Beziehungen „zu allen Staaten der Welt“ aufnehmen will. Das würde bedeuten, daß Kuba einen neuen Steigbügel für das interamerikanische Pferd erhalten, Peking der Weg nach Lateinamerika geöffnet und — last, but not least — die DDR anerkannt würde. Allendes Wahl kann also eine historische Wende nicht nur für Lateinamerika bedeuten.

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