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Kleiner roter Doktor
Man hat oft hervorgehoben, daß mit dem Sozialistenführer Dr. med. Salvador Allende zum erstenmal ein Marxist in freien Wahlen in Lateinamerika an die Macht gelangt ist. Man sieht aber darüber hinaus in seinem Experiment den Versuch, gleichzeitig die Oligarchie zu entmachten und den nordamerikanischen Hegemonleanspruch über den Halbkontinent zu schwächen, wenn nicht zu beseitigen. Hinzu kommt, daß der „kleine Doktor" in seinem Aussehen und seiner Lebensführung weit eher einem englischen Lord als einem lateinamerikanischen Klassenkämpfer ähnelt, mag er mit ihm auch die Reizbarkeit gemein haben. (Journalisten, die Allende Fragen stellen, die er als provokativ empfindet, werden kurzerhand hinausgeworfen.) In dieses ebenso interessante wie vielschichtige Bild paßt auch, daß er von einem chilenischen Revolutionsmodell spricht, bei dem er den
Ostblock als Vorbild ebenso ablehnt, wie er sein Konzept keineswegs zur Nachahmung empfiehlt. Für ihn ist die „Diktatur des Proletariats“ ebensowenig akzeptabel wie der „Arbeiter- und Bauemstaat“. Sein Staat der Arbeiter umfaßt alle, die nicht — wie er sagt — „von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ leben.
Allende manövriert mit unerwarteter Vorsicht. Die augenfälligsten Erfolge des ersten Jahres seiner Amtszeit liegen auf außenpolitischem Gebiet.
Es kam ihm zugute, daß Argentinien, dessen derzeitiges Regime Präsident Lanusse kürzlich als „links vom Zentrum“ kennzeichnete, sich vom Aufstieg Brasiliens bedroht fühlt. Man nahm an, daß sich der traditionelle Gegensatz zwischen Militärdiktaturen und demokratischen Regimen noch verstärken werde, wenn ein Marxist gewählt würde. Stattdessen haben Lanusse und Allende in ebenso geschickter wie überzeugender Form den „ideologischen Pluralismus“ proklamiert, bei dem sie den Begriff der friedlichen Koexistenz von einer häufig nur abstrakten Formel in die Wirklichkeit umsetzten.
Die Achillesferse seiner Außenpolitik bilden trotzdem nach wie vor die Beziehungen zu den USA. Zwar haben Nixon, Kissinger und der Leiter der Lateinamerikaabteilung des State Departments, Charles Meyer, erklärt, daß sje um die Aufrechterhaltung korrekter Beziehungen mit Chile bemüht seien; aber diese Haltung ist gerade in diesem Augenblick schwankend geworden, weil Allende nicht die — meist mit 700 Millionen Dollar angegebene — Entschädigung für die Enteignung der Kupfergesellschaften Anaconda und Kennecott zahlen, sondern sie mit „übermäßi gen Gewinnen" dieser Unternehmen aufrechnen will. Dabei geht er davon aus, daß nur Gewinne bis zu 10 Prozent der Investitionen „international vertretbar“ seien, eine neue Auslegung, die in den USA als willkürlich bekämpft, aber in der chilenischen Öffentlichkeit . fast einmütig „in patriotischem Geist“ gebilligt wird.
Aber die Kraftprobe für Allende hat begonnen. Die Christdemokratische Partei, ohne die Allende keine Parlamentsmehrheit findet, hat den Ton geändert. Dabei greift sie weniger Allende selbst als einige der Gruppen an, die zu seiner „Unldad Populär“ gehören.
Allende findet am Ende seines ersten Amtsjahres ungewöhnliche Schwierigkeiten: in der fehlenden Parlamentsmehrheit, der verschleierten Sabotage seiner Wirtschaftspolitik durch in- und ausländische Interessen, einem häufig turbulenten innenpolitischen Klima mit Störungen von rechts und links — unter anderem politischen Morden und illegalen Landbesetzungen —, abgesehen von Produktions- und Versorgungsschwierigkeiten, wie man sie freilich in vielen lateinamerikanischen Ländern auch anderer Couleur vorfindet. Trotzdem ist sein Regime — mindestens im Augenblick — als stabil zu betrachten, vor allem, weil das Heer hinter ihm steht. Er hat es durch längst fällige Gehaltserhöhungen, die Zuteilung von Etatgeldern für die Modernisierung der Ausrüstung und peinliche Respektierung der Hierarchie als unabhängigen Garanten der verfassungsmäßigen Ordnung in seine politischen Pläne integriert und so denjenigen Faktor zur Stütze seines Regimes gemacht, von dem nach lateinamerikanischer Tradition die wirksamste Bedrohung zu erwarten war.
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