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Die 119 Verschwundenen
In allen lateinamerikanischen Staaten fürchtet man nichts so sehr wie die politische Polizei, ob sie nun mit zivilen oder mit militärischen Elementen besetzt ist. Politische Gegner des Regimes werden verhaftet. Tage oder Wochen später werden Angehörige verständigt, daß sie an Herzschlag gestorben seien. In der argentinischen Stadt Cördoba war der linksperonistische Student Horäcio Americo Siriani verhaftet worden und während seines Aufenthaltes im dortigen Polizeipräsidium gestorben. Im Gegensatz zu andern lateinamerikanischen Ländern ordnete aber ein Richter auf Anzeige der Familie eine Autopsie an, bei der die Gerichtsärzte Blutergüsse, Verbrennungsmale und eine Hirnverletzung feststellten.
Der Umfang dieser Todesfälle läßt sich nicht feststellen, zumal die Presse in den meisten Diktaturen über diese Affären nicht zu berichten wagt. So sind es Ausnahmen, in denen das „Verschwinden“ politischer Gefangener sich zu einem solchen Skandal auswächst, daß die Regierung ihn nicht mehr durch die Unterdrückung der Nachricht oder Dementis vom Tisch fegen kann. So war es die Kirche in Brasilien, die
Aufklärung über das Schicksal von 27 „verschwundenen“ politischen Gefangenen durch eine Erklärung des Justizministers Armando Falcäo erzwang.
Die chilenische Regierung hatte erst die Einreise einer Untersuchungs-Delegation der „UN“-Men-schenrechts-Kommission gestattet, dann aber die Erlaubnis widerrufen. Sie sollte sich nicht nur mit der Situation der politischen Gefangenen beschäftigen, sondern auch das „Verschwinden“ von 119 Verhafteten klären. In diesem Zusammenhang erregt ein groteskes Täuschungsmanöver internationales Aufsehen. In der chilenischen Presse wurden Artikel aus der argentinischen Zeitschrift „Lea“ und der brasilianischen Zeitung „O Dia“ wiedergegeben. In ihnen wurde die Liste von 119 Mitgliedern der chilenischen linksradikalen „MIR“ („Movimiento Izquierdista Revolucionärio“ — „Linksrevolutionäre Bewegung“ veröffentlich, die von ihren eigenen Kameraden wegen interner Streitigkeiten als „Verräter“ in Argentinien, Venezuela, Panama, Kolumbien, Mexiko oder Frankreich ermordet worden seien. Tatsächlich fand man in Argentinien einige Erschossene mit chilenischen „Cedulas de Identidad“ (Polizeiausweisen). Verwandte dieser angeblichen Opfer reisten aus Santiago de Chile nach Buenos Aires und stellten in der Morgue fest, daß die Toten nicht mit den in dem Polizeiausweis genannten Personen identisch waren. Gleichzeitig erklärten die nach Paris emigrierten Ehefrauen von drei der in der Liste genannten Personen, daß ihre Männer in Chile verhaftet worden seien. In Venezuela behauptete ein prominenter chilenischer Emigrant, der frühere Generalsekretär der chilenischen Sozialistischen Partei Aniceto Rodriguez, daß dort überhaupt kein Mitglied der „MIR“ oder der damaligen Regierungskoalition verstorben sei. Die Nachprüfungen ergaben weiter, daß die Zeitschrift „Lea“ einmal erschienen ist, und zwar in einer Druckerei, die mit dem jetzt nach Madrid „ausgereisten“ früheren Wohlfahrtsminister und Privatsekretär der Präsidentin Pe-rön, Jose Lopez Rega in Verbindung stand, während die Zeitung „ODia“ in keinem Verzeichnis der brasilianischen Organe festzustellen ist. Die in Santiago de Chile erscheinende Wochenschrift der Jesuiten „Mensaje“ schrieb, daß nach den eidesstattlichen Erklärungen von Verwandten in 77 Fällen klare Beweise und in 26 Fällen Indizien für die in Chile erfolgte Verhaftung und das Verschwinden vorlägen. Die chilenische katholische Kirche ordnete einen religiösen Akt an, in dem man um die Aufklärung der FäMe betete.
Nun ist die Zusammenarbeit der argentinischen und chilenischen Linksterroristen seit langem bekannt, während es sich in diesem Fall zum erstenmal offensichtlich um eine solche rechtsradikaler Elemente der beiderseitigen Polizei- oder Regierungsstellen handelte. Die argentinische Zeitung „La Opiniön“ schreibt: „In Chile hat man ein makabres Uhrwerk in Bewegung gesetzt, nach dem man mit chronometrischer Präzision mordet, Leichen verbrennt und die Asche in den Wind streut. Eine große Verschwörung mit Verbindungen in Argentinien erfand teuflische Methoden, die alles aus Hitler-Deutschland Bekannte übersteigen; wobei ausländische Gespensterzeitungen und chilenische Konsule, die unrichtige Cedulas ausgeben, eingesetzt werden ...“
Der chilenische Oberste Gerichtshof lehnte die Einsetzung eines Son« derriehters zur Untersuchung der Affäre ab.
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