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Löcher überall

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Der „revolutionäre Krieg“ in Uruguay nimmt erstaunliche Formen an. Der Tod des 17jährigen Gymnasiasten Julio Cesar Spösito, eines linkskatholischen Aktivisten, der bei Zusammenstößen mit der Polizei in die Fakultät für Pharmakologie geflüchtet war und dort von einem Schuß getroffen wurde, löste ungeheures Echo aus.

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Der „revolutionäre Krieg“ in Uruguay nimmt erstaunliche Formen an. Der Tod des 17jährigen Gymnasiasten Julio Cesar Spösito, eines linkskatholischen Aktivisten, der bei Zusammenstößen mit der Polizei in die Fakultät für Pharmakologie geflüchtet war und dort von einem Schuß getroffen wurde, löste ungeheures Echo aus.

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Vier Extremisten in Ärztekitteln erschossen am nächsten Tage als Rache zwei junge Polizeibeamte, die vor einem Hospital Wache standen. Der Universitätsrat forderte nun, „das Innenministerium möge das Töten einstellen“. Die Linkspresse behauptete, der Student sei blutig geschlagen und aus nächster Nähe von einem Polizisten vorsätzlich erschossen worden; es sei dies der fünfte Fall in den letzten Jahren, in dem ein Student den Polizeikugeln zum Opfer gefallen wäre. Die Regierung veröffentlichte das gerichtsärztliche Gutachten, nach dem bei der Autopsie keinerlei Spuren eines Schlages festgestellt worden seien und es sich nach der Art des Einschusses um eine von der Wand abgeprallte Kugel handeln müsse. Im übrigen stellte sie der Zahl der fünf getöteten Studenten jene der im gleichen Zeitraum gefallenen 18 Polizisten gegenüber. Die Schulen fielen aus; ein Generalstreik lähmte die Stadt. Die Schulbehörde schritt ein: sie forderte von den Direktoren, daß sie die Schüler am Verlassen der Gebäude für „peajes“ hinderte. (Dies ist eine moderne Form der Wegelagerei, bei der Gymnasiasten oder Studenten jedes vorbeikommende Fahrzeug anhalten, um Geld zu sammeln oder Propaganda zu verteilen.)

Der getötete Gymnasiast gehörte zum Kirchenrat einer Pfarrei in dem eleganten Wohnviertel Pocitos, in deren Kirchenschiff er aufgebahrt wurde, während hunderte junger Menschen still auf den Stufen saßen und das über Lautsprecher übertragene Gebet des Paters Ponce de Leön anhörten.

Die konservative Zeitung „La Mafiana“ veröffentlichte daraufhin einen Leserbrief: „Ich beschuldige Sie, Pater Pence de Leön, für den Tod des Studenten Spösito verantwortlich zu sein, weil Sie, statt Frieden und Liebe zu säen, den Haß schüren und die Jugend zum Radikalismus verführen. Sie haben sich mit dem Castro-Kommunismus verbündet, um die Uruguayer in zwei tödlich verfeindete Lager zu spalten.“

Die Erregung über die Zwischenfälle hatte sich noch nicht gelegt, als an einem Sonntagnachmittag im Arbeiterviertel Cerro sechs Omnibusse, darunter zwei stadteigene, aus unerklärlichen Gründen mit Molotow- Cocktails in Brand gesteckt und zerstört wurden. Man sprach von Aufruhrstimmung. Polizei und Heer wurden eingesetzt, um das ganze Viertel abzuriegeln. In Wirklichkeit handelte es sich, wie man wenige Stunden danach erklärte, um ein Ablenkungsmanöver. Zwar hatten die „Verantwortlichen“ Verdacht geschöpft: Der Direktor der Gefängnisanstalten, Oberst Pascual Cirilo, ordnete um Mitternacht im Zuchthaus

Punta Carreta eine Inspektion an, „bei der nichts Abnormales festgestellt wurde“. Fünf Stunden später rief die Polizei im Zuchthaus an: Sie sei von anderer Seite verständigt worden, daß mehr als hundert der dort inhaftierten „Tupamaros“ geflohen seien. Nun ist dies nicht die erste Flucht aus dieser bekannten, uralten Strafanstalt Im Jahre 1931 machte die Flucht von elf Anarchisten Schlagzeilen in der Weltpresse. Sie entkamen über einen Tunnel, der zu einer Kohlenhandlung auf der gegenüberliegenden Straßenseite führte. Die „Tupa-

gelernt. Sie gruben einen 40 Meter langen Gang zu einem Haus in unmittelbarer Nachbarschaft der Kohlenhandlung. Dies war die dritte Massenflucht der „Tupamaros“.

145 „Tupamaros“ insgesamt sind in den letzten drei Monaten entwichen. Die konservative Zeitung „El Pais“ schreibt: „Die ganze Episode ist außerordentlich schwerwiegend; sie stellt unter Beweis — in einer Weise, die lächerlich zu nennen wäre, wenn sie nicht tragisch wäre —, bis zu welchem Grade…die Unfähigkeit, die Sorglosigkeit und die Nachlässigkeit gediehen sind.“ Wenn man bedenkt, daß innerhalb des Zuchthauses besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden waren, daß ferner die ganze Zuchthauszone zum Militärgebiet erklärt, von Tanks bewacht und der Verkehr umgeleitet war, und den Behörden die Gefahr so bewußt war, daß die Verlegung der Gefangenen auf die frühere Quarantäneinsel Isla de Flores vorbereitet wurde, so kann man nicht hur an ‘Nächlässigkeit glaubend Jetzt’ ist ein bedeutender Teil der Elite der „Tupamaros“, deren man mit unglaublicher Mühe habhaft werden konnte, geflohen. Die phrasenhaften Kommuniques, mit denen die zuständigen Ministerien Zeitungen und Rundfunkanstalten über-

schwemmen, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Gefahren des revolutionären Krieges in alarmierendem Grade zugenommen haben, weil auf der einen Seite die fähigsten Aktivisten wieder einsatzfähig geworden sind und auf der anderen Seite offenkundig wird, wie durchlässig nicht nur die Gefängnisse, sondern auch der Sicherheitsapparat des Staates ist. Die Frage, wie viele Millionen bei dieser Gelegenheit gerollt sind, dürfte erst in 40 Jahren bekannt werden, wenn die pensionierten „Tupamaros“ ihre Memoiren veröffentlichen.

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