6848033-1976_32_05.jpg
Digital In Arbeit

Polnischer „Klassenkampf“

Werbung
Werbung
Werbung

Raidom ist seit Juni 1975 Wolwod-schaftssitz und hat 170.000 Einwohner, davon 50.000 selbstbewußte Arbeiter — von ihnen sind 40.000 in staatseigenen Betrieben beschäftigt —, die ihren in der kapitalistischen Zeit begonnenen „Klassenkampf“ auch seit der kornmunistischen Machtübernahme mit Streiks und anderen wirksamen Mitteln fortgesetzt haben. Die „Walter Metallwerke“, die Kleinkaliberwaffen und -munition erzeugen, sind seit eh und je eine Hochburg des Widerstands der Werktätigen. Hier und in der staatlichen „Radoskor-Schuhfabrik“

brach ein Streik wegen der Lebensmittelknappheit im März 1975 aus. Damals wurden 150 Personen, meist Frauen, in „Radoskor“ verhaftet, nach einem Sympathiestreik in der Kriegsmaterialfaforik jedoch unverzüglich wieder freigelassen.

Am 25. Juni 1976 zogen sich wieder dunkle Wolken über Radom zusammen. Authentische Informationen erhielt man erst am 30. Juni vom Bürgermeister der Stadt, Tadeusz Karwicki, der die Bevölkerung zu einer Massenversammlung zusammenrief. Seine beruhigende Ansprache wurde in der Lokalzeitung

„Nasza Tribuna“ publiziert. Verzweifelt forderte der Bürgermeister — warum nicht der Erste Parteisekretär, wie üblich? — die Bevölkerung auf, die Partei und die Regierung zu unterstützen. Für Karwicki und seine Parteigenossen war es unverständlich daß gerade die Arbeiter der Kriegsmaterialwerke rebellierten, ihre Löhne waren ja im Laufe eines Jahres um 20 Prozent erhöht worden.

In Radom war eine aufgebrachte Gruppe von Walter-Arbeitern auf die Straße gegangen. Karwicki beschimpfte sie als „Parasiten, Hooli-

gans, Kriminelle und antisozialistische Elemente“, die keine besseren Ambitionen hätten, als das Haus des Woiwadschafts-P«rteikomitees zu stürmen, es mit Gewalt zu erobern und anzuzünden..

Eine beachtliche Leistung von „hysterischen Weibern und betrunkenen Hallbstarken“, wie der Bürgermeister die Demonstranten nannte. Es war nicht leicht für die Partei und die Polizei, fünf Minderjährige und Arbeitsscheue aus der Menge herauszufischen und sie später als Kriminelle der Öffentlichkeit Polens vorzustellen. Die ganze Bevölkerung möge sich dieser „Vandalen und Feuerleger“ wegen, von denen die ausgerückte, bewaffnete Miliz mit einem Steinhagel empfangen wurde, schämen. Die Tatsachen widersprechen allerdings den stadtväterlichen Behauptungen. Es dauerte bis Mitternacht, bis man der „Vandalen“ Herr wurde. 24 Autobusse, Lastwagen, Feuerwehrwagen blieben ausgebrannt auf dem Schlachtfeld; eine Anzahl von Geschäften wurde aufgebrochen, geplündert und demoliert; das Woiwodschaftsamt und das Hauptquartier der Polizei wurden angezündet.

Die aufgebrachte Arbeitermenge verletzte nicht weniger als 75 Milizionäre, acht von ihnen lebensgefährlich; zwei Demonstranten mußten dafür mit dem Leben bezahlen. (Die Daten stammen nicht von De-

monstranten, sondern vom Bürgermeister und von „Nasza Tribuna“).

Die Miliz veranstaltete in den folgenden Tagen eine wahre Treibjagd auf „aktive Teilnehmer“. Die administrativen Organe und die Gerichte hatten Völllbetrieb. Gemäß dem Artikel 127 des polnischen Strafgesetzes müssen für derartige Ausschreitungen Freiheitsstrafen von fünf Jahren aufwärts, bis zur Todesstrafe, verhängt werden. Bei geringfügigen Überschreitungen kann der Artikel 220 herangezogen werden, aber auch in diesem Fall darf der „Freiheitsentzug“ nicht kürzer als drei Jahre dauern.

Bürgermeister Karwicki bat seine Zuhörer, „aus den Ereignissen die Lehre zu ziehen“. Die Antwort war Schweigen.

Parteiführung und Polizei scheinen die Gefahr richtig erkannt zu haben. Die Bestrafung und die Bloßstellung der Demonstranten ist nämlich ein zweischneidiges Sohwert. Zu strenge Vergeltungsmaßnahmen könnten die Arbeiterschaft unnötig reizen und weitere Unruhen auslösen. Deshalb bemühte man sich um eine Bagatellisierung der Geschehnisse, indem man keinen Staatsfunktionär von Rang und keinen namhaften Parteiführer mit dem Volk konfrontierte, sondern nur den ratlosen, erschrok-kenen Bürgermeister der Stadt Radom.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung