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Nüchternes Erwachen

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Anderntags erwachte Amsterdam wie aus schwerem Alptraum. Was war geschehen, und wie war das überhaupt möglich gewesen, fragte man sich bestürzt. .

„Amsterdam leckt seine Wunden und ist außer Fassung“, konstatierte- ein Rundfunkreporter, der eine erste Bilanz zog: sechzig zum Teil schwerverwundete Bürger und dreißig verletzte Polizisten, eine große Zahl von Verhaftungen, der Schaden an öffentlichen Gebäuden und partikulärem Besitz kaum abzuschätzen.

Der Anbeitskamerad aber, an dessen jähem Tod sich der siedende Haß und die fürchterlichen Leidenschaften erst entzündet hatten, war, wie aus einwandfreien und wiederholten ärztlichen Untersuchungen hervorging, einem Herzschlag erlegen und keineswegs durch Polizeigewalt umgekommen

Wer indes trug die Verantwortung für das unheilvolle Geschehen? Die

Suche nach dem Sündenbock begann. Es gab ihrer viele.

Die Organisatoren der Kundgebungen hatten, das war ohne weiteres klar, das Schreckliche nicht gewollt und die möglichen Folgen ihrer Treibereien nicht vorausgesehen. Eines schien verdächtig: Der Vorsitzende des betreffenden Komitees war ein Kommunist. Und die Parole der Demonstranten hatte nicht nur „Wiedergutmachung des Unrechts“ gelautet, sondern man hatte, vielleicht der Provos wegen, als zweites Ziel „Beseitigung der Polizeigewalt“ hinzugefügt. Die Kommunisten wurden im Parlament einem strengen Kreuzverhör unterworfen. Nachweisen konnte man der Partei bisher nichts.

Der „Schwarze Peter“ wandert

Dies war wohl der Fall angesichts einer marxistisch-leninistischen Organisation, die unter dem Namen „Rote Jugend“ ein illegales Hetzbulletin vertrieb, das auf den Straßen kolportiert wurde und offen dazu aufrief, beim amerikanischen Konsulat und bei amerikanischen Banken Scheiben einzuwerfen, Mauern zu beschmieren und dergleichen mehr zu verüben. Die Aufwiegler wurden nachträglich verhaftet.

Die Aufgaben der Polizei, auf deren Haupt so oft die Schuld atage- wälzt wurde, sind unter den gegebenen Umständen dn der anerkannt „schwierigen“ Stadt Amsterdam nicht leicht. Manchmal tritt sie zu früh und zu gestreng, dann wieder zu spät und zu schlapp auf. Sie soll stets zur Stelle und allgegenwärtig, aber möglichst unsichtbar sein. Die Happenings der Provos haben ihr viel Arbeit, Kummer und Verdruß besorgt. Sie ist demzufolge arg verbittert. Erst die schwere Katastrophe des schwarzen Dienstag hat ihr endlich ein wenig Anerkennung und Achtung besorgt.

Der Obrigkeit von Amsterdam, der Polizeiführung, der Justiz wie auch der Regierung blieb harte Kritik nicht erspart. Man beschuldigt sich gegenseitig der Nachlässigkeit, weil man die gefährlichen Funken so lange schwelen ließ, bis ein kleiner Luftzug das Feuer entfachte. Eingeweihte bezeichnen es als ein Glück, daß die Rebellion nun offen und für jeden erkennbar zutage getreten sei. Viele’ sind der Meinung, daß die Gefahren der Anarchie nur durch strengste Maßnahmen gebannt werden können. Sie sehen die jüngsten Ereignisse lediglich als eine Folge der schleichenden Autoritätskrise und des Mangels an Zucht und Disziplin an. „Die Forderung einer Entwaffnung der Polizei bedeutet Steine befördern, mit denen Terroristen, Anarchisten und asoziale Elemente die Ordnung bekriegen werden“, schreibt Prof. Ruygers, einer der Wortführer dieser Kreise.

Hintergründe

Indes werden auch ernstzuneh- mende andere Ansichten und Mei- , nunigen laut. Angesichts der ständig wachsenden Unzufriedenheit und des Unbehagens fragt man sich: Woran krankt unser Wohlfahrtsstaat, unsere Demokratie? Was ver birgt sich hinter dem von Regierungsparteipolitikern als destruktiv bezeichneten Denken, daß die Niederländer in steigendem Maße bei den zwei jüngsten Wahlen die rechtsradikale Bauernpartei und die linksextremistischen Pazifisten und Kommunisten bevorzugen hieß?

Verstehen Wir die seelische Not vieler idealistisch eingestellter Jugendlicher, von der sie sich trotz des materiellen Wohlstandes bedrängt fühlen, recht? Ihren Widerwillen einer Welt gegenüber, in der das Denken und Handeln fast ausschließlich von einer allmächtigen Technik und Wirtschaft beherrscht und bestimmt wird?

Vielleicht sollten wir doch die Proteste und Ermahnungen eines Teiles der Jugend ernster nehmen, sie hat vielleicht einen feineren Spürsinn für das, was aus der Feme auf uns zukommt und die ganze Menschheit bedroht. Die Jugendlichen, allen voran die niederländischen Provos, provozieren, fordern heraus, prangern an, rebellieren. Sie machen sich viele Feinde, finden aber auch vielerorts Verständnis und Anerkennung.

Solche Erwägungen, so kurz nach dem schwarzen Dienstag, weisen darauf hin, wie ausführlich und vielseitig „das große aktuelle Problem“ studiert wird.

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