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Wie in Moskau?

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Juristische Auseinandersetzungen sind in der Regel nicht nach dem Geschmack des breiten Publikums. Auf einmal aber beschäftigen zwei knifflige Rechtsfragen die schweizerische Öffentlichkeit in einem Ausmaß, das nur durch die politischen Konsequenzen zu erklären ist. Die beiden Fragen haben zwar nichts miteinander zu tun, es sei denn man denke an den im weitesten Sinn gemeinsamen Ursprung: beide sind nämlich von links her ausgelöst worden.

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Juristische Auseinandersetzungen sind in der Regel nicht nach dem Geschmack des breiten Publikums. Auf einmal aber beschäftigen zwei knifflige Rechtsfragen die schweizerische Öffentlichkeit in einem Ausmaß, das nur durch die politischen Konsequenzen zu erklären ist. Die beiden Fragen haben zwar nichts miteinander zu tun, es sei denn man denke an den im weitesten Sinn gemeinsamen Ursprung: beide sind nämlich von links her ausgelöst worden.

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Zunächst geht es um den „Fall Villard“. Arthur Villard, ein kämpferischer Pazifist, war am 31. Oktober des letzten Jahres als Mitglied der sozialdemokratischen Partei des Kantons Bern in das eidgenössische Parlament gewählt worden. Teilweise zum Leidwesen einzelner seiner eigenen Parteigenossen, die ihn zwar gerne als Aushängeschild im Wahlkampf gebrauchten, ihn aber lieber nicht im erhabenen Kreis der Immunen gesehen hätten. Die Jungen jedoch setzten seine Wahl durch. Damit zog ein Mann in den Nationalrat, der wegen Militärdienstverweigerung und auch wegen Agitation gegen den offiziellen Besuch des amerikanischen Vietnam-Generals West-moreland zu Gefängnisstrafen verurteilt worden war.

Die sozialdemokratische Partei hatte nun keine andere Wahl mehr, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und so setzte sie Arthur Villard bei der Etablierung der Kommissionen auf die Liste der Kandidaten für die Militärkommission. Nun wurde der Pazifist Kriegsobjekt Das Kommissionsbüro verweigerte zunächst seine Zulassung, dann sprach man von einer besonderen persönlichen Erklärung Villards, daß er sich auch als Antimilitarist an die Geheimhaltungspflicht gebunden fühle. Der „Fall Villard“ ist zur Stunde noch nicht erledigt, und die anderen sozialdemokratischen Kommissionsmitglieder kündigten an, daß sie bis zur Zulassung ihres Genossen ! den Kommissionssitzungen fernblei- , ben werden.

Das ist also der politische Aspekt, i Viel schwerer wiegt aber der juristi- . sehe. Kann eine kleine Gruppe von i Landesverteidigungsfanatikern ein Ratsmitglied, das immerhin von ge- ] nügend viel Bürgern gewählt und also mit dem entsprechenden Ver- -\ trauen bedacht worden ist, ausschließen? Und kann man von einem Ein- ; zelmitglied eine Sondererklärung , verlangen, es also zu einem Ratsmitglied zweiter Klasse stempeln? Die Wogen gehen hoch, und Villard hat immerhin bereits das Verdienst, Bewegung in eine oft allzu sterile Lage gebracht zu haben. Daß dadurch grundsätzliche Probleme diskutiert werden, ist um so verdienstvoller.

Das gleiche gilt übrigens für den zweiten „Fall“, auch wenn dieser in seinen Ursprüngen nicht so bedeutend ist. Er begann mit der sogenannten ,3unkerjugend“, die vor einem Jahr die sogenannte „Autonome Republik Bunker“ gegründet und damit dem Establishment den Kampf angesagt hatte. Es blieb beim bloßen und meist handgreiflichen Kampf: so kam es in der vergangenen Neujahrsnacht zu wüsten . Schlägereien zwischen den Jungen : und der Polizei. Leider ist die politische Substanz, wenn es eine solche überhaupt gegeben hat. völlig geschwunden, und einer der früheren Anführer zum Beispiel ist längst abtrünnig geworden. Anstatt gegen die böse Konsumgesellschaft zu kämpfen, arbeitet er heute in einer Werbeagentur und hilft mit, den Konsum in dieser Gesellschaft zu fördern!

Nicht die Bunkerjugend an sich verdient, analysiert zu werden, aber die Maßnahmen, die die Zürcher Behörden nun ergriffen haben, sind diskutabel. Sie haben nämlich eine längst vergessene Verfügung aus dem Jahre 1926 ausgegraben, in der es heißt: „Der Gemeinderat kann Personen, welche die Sicherheit oder das Eigentum anderer ernstlich bedrohen oder gefährden, bis auf die Dauer von zwei Tagen in Polizeiverhaft nehmen, wenn der Gefahr nur durch sofortigen Verhaft begegnet werden kann.“

Diese Verfügung ist inzwischen bereits angewendet worden. Als die „Bunkerjugend“ ankündigte, sie werde in den nächsten Tagen regelmäßig Teach-ins veranstalten in der

öffentlichen Bahnhofunterführung, nahm die Polizei sechs ihrer Anführer für zwei Tage fest. Daß sie die wirklichen Drahtzieher erwischte, bewies der Erfolg: wenigstens in den darauffolgenden Tagen herrschte Ruhe.

Trotzdem ist das Unbehagen in der Öffentlichkeit groß. Dabei wird zum Beispiel auf die Europäische Menschenrechtskonvention hingewiesen. Sie verlangt, daß jeder, der seiner Freiheit durch Festnahme beraubt wird, ein Recht darauf hat, ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht unverzüglich über die Rechtmäßigkeit seiner Verhaftung entschieden und im Falle der Widerrechtlichkeit der Verhaftung seine sofortige Entlassung angeordnet wird. Auch wird unterstrichen, daß durch diese Präventivhaft die Grenzen zwischen der Haft als Strafe und der Haft als Vorbeugung verwischt werden, wobei die Bestrafung ja eindeutig nicht Sache der Polizei, sonders des Gerichtes ist.

Schließlich beginnt man sich auch allmählich zu vergegenwärtigen, daß solche Polizeimaßnahmen nicht in eine moderne Demokratie gehören. Wenn auf dem Roten Platz zu Moskau Manifestanten ohne Federlesen abgeführt und verhaftet werden, so ist die schweizerische Öffentlichkeit sogleich mit einem scharfen Urteil zur Hand. „Typisch Diktatur“, heißt es dann sofort. Und wenn die Zürcher Polizei nun jugendliche Manifestanten verhaftet, noch bevor sie sich gegen das Gesetz vergangen haben, so gilt es eben, die Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten?

Juristen und Parlamentarier auch ausgesprochen bürgerlicher Parteien haben sich jetzt dafür eingesetzt, daß nicht mehr mit zweierlei Maß gemessen werden soll. „Wir können gegen die Härte der Sowjetpolizei protestieren“, sagte ein Zürcher Kantonsrat, „aber wir können sonst nichts dagegen unternehmen. Gegen übermäßige Härte unser Polizei können wir einschreiten, und unser Protest gegen den Osten wird nur glaubwürdig, wenn wir bei uns selbst entsprechend handeln.“

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