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Bei den Opfern der Guillotine

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ES GIBT WOHL KAUM einen einträglicheren Beruf, als Friedhofswärter in einem der großen Pariser BestattungLorte zu sein. Sie sehen aus wie Gendarmen in Trauerkleidung — würdig, korrekt und selbstbewußt. Sie erwarten die Touristen an den Eingängen der unentwirrbaren Steinwüsten des Pere La- chaise, des Friedhofs von Montparnasse oder Montmartre, und sobald sich jemand suchend umsieht, tragen sie ihre Führung und Hilfe an. Verweilt man sinnend vor der letzten Ruhestätte der Sarah Bernhardt, so taucht unvermutet ein Aufseher zwischen den Gräbern auf und erbietet sich, einen zur Colette, zu Chopin, Rossini oder Oscar Wilde zu begleiten.' Der Vergütung für Lotsendienst und literarischen Kommentar wird nach oben hin keine Grenze gesetzt. Das Touristeninteresse und der Geschäftsgeist, den es entwickelte, hat den großen Friedhöfen ihren ursprünglichen Sinn genommen und sie zu Stätten der Attraktion und der allgemeinen Neugier gemacht, die in ein Reiseprogramm gehören wie der Eiffelturm, die Champs Elysėes, der Louvre, der Invalidendom und andere Sehenswürdigkeiten von Paris.

Doch es gibt einen stillen Friedhof, den die Touristenströme nicht erreichen: das ist der kleine Privatfriedhof Picpus, unweit der Place de la Nation — fast an der Peripherie der Stadt. Die Guillotine, die in der letzten Phase der Schreckensherrschaft einige Steinwürfe von hier entfernt ihr blutiges Werk vollbrachte, bestimmte seine Geschichte. Kein Nichteingeweihter, der die trostlos lange Picpus-Straße hinaufgeht, wird hinter dem mächtigen Holzportal des Hauses Nr. 35, das stets geschlossen gehalten wird,

zwei Massengräber vermuten, in denen 1306 Opfer der großen Französischen Revolution ruhen. Das Haus beherbergt heute die Nonnen des Ordens Sacrė-Coeur et de 1'Adoration. Das Grundstück wird links von einer Großschreinerei und rechts von einer Volksschule begrenzt, während sich im Hintergrund das Krankenhaus der Rothschild-Stiftung erhebt. Jenseits der grauen Mauern, die das Terrain abschließen und zu einer Insel im großstädtischen Häusergewirr machen, sieht man hochgeschossige Bauten im häßlichen Nachkriegsstil. Das Rauschen von Paris dringt gedämpft in diese Einsamkeit.

Monsieur N. ist ein Grandseigneur unter den französischen Friedhofswärtern. Er behält sich vor, sensationslüsterne Besucher vom Friedhof fernzuhalten. Es gibt hier keine Massenführung und Kollektivabfertigung, und wen Monsieur N. doch für würdig befindet, in die Geheimnisse von Picpus eingeweiht zu werden, erfährt die Behandlung eines Gastes, der auf einen stundenlangen Geschichtsvortrag Anspruch hat. Er hat die Archive der Stadt Paris und die Aufzeichnungen eines Nachfahren des berühmten Gartenbauarchitekten Lenötre studiert, doch er leiert keinen auswendig gelernten Text herunter, sondern gibt den schrecklichen Dingen, die hier vor 170 Jahren passierten, eine so lebendige Darstellung, als habe er sie mit eigenen Augen angesehen.

WIR GEHEN DURCH DEN großen Gemüsegarten, der von bunten Blumen eingesäumt ist. In der milden Herbstsonne arbeiten zwei weißgekleidete Nonnen zwischen den Beeten. An der rückwärtigen Mauer ist ein Häuschen, das bereits vorder Revolution gestanden hat und ' heute als Andachtskapelle dient. An der linken Mauerseite sieht man einen später wieder verkleideten Durchbruch, der — wie man an einem oberen Balken erkennen kann — früher als Toreinfahrt gedient hat. „Wie Sie wissen“, beginnt Monsieur N. seinen Kommentar, „hat die Guillotine zu Beginn der Schreckensherrschaft auf der Place Louis XV. gestanden (der jetzigen Place de la Concorde), sie wurde später an der Bastille aufgestellt, mußte jedoch — da sich die Einwohner der dichtbevölkerten Gegend über den Blutrausch entrüste-

ten — bereits nach drei Tagen ihre Tätigkeit einstellen. Man brachte sie schließlich an den Stadtrand zur Place du Throne. Während der Revolution sprach man vom ,Platz des gestürzten Throns1, ehe man ihm später seinen heutigen Namen ,Place de la Nation“ gab. Hier, in unmittelbarer Nähe, wurden in der Zeit vom 14. Juni bis zum 27. Juli 1794 1306 Menschen hingerichtet. Erst mit dem Sturz Robespierres am 9. Thermidor des Jahres II nahm das entsetzliche Schlachten ein Ende. Gleich zu Beginn des Gemetzels an dieser Stelle von Paris wurde eine Kommission beauftragt, einen diskreten Platz“ zu finden, wo man die Leichen der Hingerichteten verschwinden lassen konnte, da die ursprüngliche Grube im Nordwesten von Paris zu weit entfernt war. Die Kommission ermittelte das Grundstück, auf dem wir jetzt stehen. Es hatte bis zur Revolution dem Nonnenorden von St. Augustin angehört, der unter dem Namen ,Die Damen von Piopus“ bekann,t war. Doch die Ereignisse zerstreuten die frommen Schwestern in alle Winde. Der Staat beschlagnahmte das Anwesen und vermietete es zu günstigen Bedingungen an den Bürger Riėdain, der die Absicht hatte, hier ein Erholungsheim für Rekonvaleszente zu errichten. Eines Nachts wurde er durch den Lärm einer Arbeitskolonne aus dem Schlaf geschreckt, die diesen Mauerdurchbruch machte und eine Grube im Garten aushob. Alle seine Proteste bei der Regierung wurden zurückgewiesen, und schon kurze Zeit darauf fuhren allnächtlich die roten Sturzkarren durch das Tor. Bei Laternenlicht zogen die Henker den Opfern die Kleider vom Leibe und

warfen die verstümmelten Leichen — Rümpfe und Köpfe, alles durcheinander — nackt in die Grube “

Ich benutze eine Atempause des Berichterstatters, um ihn nach den Zweck des Ausziehens zu befragen. Ob dies wohl eine spätere Identifizierung der Guillotinierten verhindern sollte? „Ich glaube es nicht“, meint Monsieur N. „Anfangs diente alles, was die Hingerichteten an sich hatten, den schlechtbezahlten Henkern als Trinkgeld.“ — Ja, er gebrauchte wirklich das Wort „Trinkgeld“! — „Später wurde angeordnet, daß die Kleider an die Krankenhäuser abzuführen seien, doch den Henkern blieb noch immer das Geld

und der Schmuck, den sie vielfach bei den Leichen fanden. Sie sollen noch immer ein gutes Geschäft gemacht haben “ Ich stelle mir einen Augenblick lang die grausige Szene vor, wie die Henker bei spärlichem Laternenschein in blutverschmierten Kleidern nach Pretiosen wühlen und ihre Taschen füllen.

Ich möchte wissen, ob nicht zu einem späteren Zeitpunkt wenigstens der Versuch unternommen wurde, einzelne Opfer festzustellen. Doch der Friedhofsaufseher winkt ab: „Was wollen Sie, die beiden Gruben im Garten wurden drei Jahre lang nicht zugeschüttet. Man hat sie nur notdürftig mit Planken abgedeckt. Das hat den Verwesungsprozeß sehr beschleunigt und die Leichen unkenntlich gemacht. Man berichtet, daß der Geruch die ganze Gegend verpestete und viele benachbarten Einwohner in die Flucht trieb. Die hygienischen Vorstellungen der Behörden waren damals nicht so streng wie heute; man begnügte sieli mit der Einfriedung des Massengrabes durch eine Mauer. Erst 1797 wurde eine würdige Grabstätte geschaffen “

DER EIGENTLICHE FRIEDHOF liegt quer zum Gemüsegarten. Er zerfällt in zwei rechteckige Teile, die ihrerseits durch eine Mauer voneinander getrennt werden. Links liegt eine in den nachrevolutionären Jahren geschaffene Bestattungsstätte, die noch heute' Familien des hohen Adels als letzte Ruhestätte dient, soweit sie verwandtschaftliche Beziehungen zu den Hingerichteten des Jahres 1794 haben, die jenseits der Zwischenmauer ruhen. Der rechte Friedhofs-

teil, in dem sich die Revolutionsopfer befinden, kann nicht betreten werden. Doch kann man ihn durch ein kleines, vergittertes Gartentor gut übersehen. Im Schatten einiger junger Bäume sieht man zwei mit Kies abgedeckte Rechtecke, zwischen denen eine Rasenfläche liegt. Im vergangenen Jahrhundert wurden zum Gedenken an die Toten zwei schlichte Steinkreuze — vorn und an der rückwärtigen Mauer — errichtet.

Die erste, vom Beschauer weiter entfernte Grube enthält 1002 Tote und ist 6,5 Meter tief; die parallele Grube — in unmittelbarer Nähe der Zwischenmauer — wurde erst in den letzten Tagen der Schreckensherr-

schäft ausgehoben. Sie ist 3,5 Meter tief und enthält 304 Hingerichtete. Eine steinerne Platte an der Pforte gibt Aufschluß darüber, daß dies die letzte Ruhestätte von 1109 Männern und 197 Frauen ist. Ihr sozialer

Stand ist genau verzeichnet. Die Frauen werden eingeteilt in sieben nicht speziflerte Ordensschwestern, 16 Karmeliterinnen, 51 ehemalige Adelige, und 123 „Frauen des Volkes“. Die soziale Verteilung der Männer ergibt das folgende Bild: 108 Geistliche, 108 ehemalige Adelige, 136 „gens de robes“ (Richter und höhere Beamte), 178 „Männer des Degens“ (Offiziere) und 579 „Männer des Volkes“.

Ein Nachprüfung der vollständigen Namenslisten in den Archiven ergab, daß die Mehrheit der am Place du Throne Hingerichteten tatsächlich dem bürgerlichen oder niederen Stand angehörten. Unter diesen Revolutionsopfern sind Kaufleute, einfache Soldaten, Boten, Diener, Zimmermädchen, Handwerker, Näherinnen usw.

Trotzdem scheint die Picpus- Friedhofsgesellschaft der sozialen Verteilung wenig Rechnung zu tragen und die Bestattungsstätte diesseits der Trennungsmauer ausschließlich dem Adel vorzubehalten. Ulustre Namen stehen auf den zum Teil verwitterten Grabplatten: de Rohan-Chabot, de Faudras, de la Rochefoucauld, d'Hautefort, de Polignac, de Montalembert, de Rė- camier, de Kergorlay, de Noailles. Die Familie de Montmorency, die bereits in der französischen Frühgeschichte eine wesentliche Rolle spielte, ist sogar durch ein Mausoleum vertreten. Sie soll jedoch ausgestorben sein, denn die letzte Bestattung datiert vom 18. August 1862. Der Aufseher erinnert sich nicht, jemals einen Verwandten der Montmorencys in Picpus gesehen zu haben. Auch das Grab des Verwandten der Beauharnais — General Alexandre de Beauharnais

wurde mit 34 Jahren guillotiniert — de Tascher de la Pagerie (geboren in Frankfurt 1811 und gestorben in München 1869) ist seit Jahrzehnten nicht mehr besucht worden. Schließlich zeigt mir Monsieur N. noch das Grab der Charlotte Louise Dorothee Prinzessin von Rohan-Rochefort, die am 1. Mai 1844 in Paris gestorben ist. „Sie wurde 73 ein Halb Jahre alt“ — heißt es auf der Grabplatte. „Auch dieses Grab ist seit Generationen verlassen“, kommentiert der Aufseher, „und doch war die Prinzessin mit dem Herzog von Enghien verlobt, ja, man sagt sogar, daß sie mit ihm heimlich verheiratet war Sie wissen doch, daß der Herzog von

Enghien auf Befehl Napoleons aus Baden entführt und im Fort von Vincennes erschossen wurde “

LANGSAM GEHEN WIR AN DEN Gräbern vorüber, und fast jeder Name vermittelt eine historische Erinnerung. Alles ist in einem würdigen Grau gehalten und äußerst gewissenhaft gepflegt, auch die Ruhestätten ausgestorbener Familien. Alle Angaben wirken nüchtern und sachlich. Es gibt keine barok- ken Ornamente oder Verzierungen und schon gar nicht Plastikblumen, die den Schrecken der großen Pariser Friedhöfe bilden. Nur ein schreiender Farbfleck läßt den Besucher erschauern: das amerikanische Sternenbanner am Kopfende des Grabes Lafayettes. Monsieur N. lächelt etwas gequält, er erspart sich aber jede Bemerkung. Was sollte man auch dazu sagen .. ?

Noch einmal kommen wir zur Zwischenmauer. Da entdecke ich neben einer Gedenkplatte für den Dichter Andrė Chėnier eine Inschrift, die darauf hinweist, daß sich das Terrain mit den beiden Massengräbern 129 Jahre lang in deutschem Besitz befand: Zum Andenken an ihren guillotinierten und hier verscharrten Bruder, des Fürsten Friedrich von Salm-Kirburg, der Oberst bei den deutschen Truppen war, kaufte die Prinzessin von Hohenzollern-Sigmaringen, Amelie von Salm, das Grundstück im Jahre 1797 und legte damit wohl den Grundstein für den späteren Friedhof. Bis 1926 unterstand das Gelände der Aufsicht der deutschen Botschaft in Paris

Man kann diese Stätte, die heute versöhnlich wirkt und nichts Grauenhaftes mehr aufweist, nicht verlassen, ohne zutiefst erschüttert zu sein. Auch die kurze Strecke zwischen dem Friedhof und dem einstigen Hinrichtungsplatz erinnert

durch nichts an die Wochen des Blutrausches des Sommers 1794. Und doch haben einige der altersgeschwärzten Häuser, von denen der Putz abblättert, nachts die Totenkarren gesehen, deren niedrige Räder oft im Sande stecken blieben; und sie haben am Tage die brodelnde Menge der Gaffer erlebt, die den Henkern für ihre Geschicklichkeit Beifall zollte. Und unwillkürlich denkt man an jene Gruppe der Karmeliterinnen, die während der letzten Minuten vor dem Betreten des Blutgerüstes Choräle anstimmte und durch ihre gläubige Zuversicht den Pöbel zum Schweigen brachte.

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