6837757-1975_24_20.jpg
Digital In Arbeit

Die Schwiegertochter der Frau Koubek ...

Werbung
Werbung
Werbung

Dort, wo sich die Wege des 38ers und des G2 trennen, wo die Bill-rohtstraße in die Döblinger Hauptstraße mündet, liegt der jüdische Friedhof von Währing. Aus den höheren Stockwerken des Arthur-Schnitzler-Hofes kann man ihn deu-lich sehen, den Studierenden an der Hochschule; für Welthandel ist er nur durch ein paar Bäume verdeckt. Auf der, Friedhofsmauer wird zu „Kreisky go home“ und „Keine Stimme dem bürgerlichen Kandidaten“ aufgerufen — die in die Wände gekratzten Davidsterne werden immer zahlreicher: dort, wo ein großes, aber schon blasses „NPD“ steht, ist schließlich der Eingang.

Der Friedhof ist seit Jahren nicht mehr öffentlich zugänglich. „Haben Sie einen Zettel von der Kultusgemeinde?“ fragt Frau Koubek. „Ich weiß nicht, ob das recht ist — heute am Sabbat.“ Dann schickt sie die Schwiegertochter herunter.

Das Haus Semperstraße 64 a ist heute eine Ruine, obwohl es noch bewohnt wird. Früher fuhren die Leichenwagen durch das große Tor ein oder aber sie kamen über die Auffahrt vom Währinger Gürtel her. Die Leichen wurden hier zunächst gewaschen. Der Brunnen vor dem

Tor ist mittlerweile eingestürzt und mit Erde zugeschüttet worden. Ein feuchter Fleck auf dem Boden erinnert daran, und die Hausbewohner machen schon ganz automatisch einen Bogen, wenn sie hier vorbeikommen. Im' Haus der Kamin, an dem man das Wasser wärmte. Heute steht hier eine alte Wohnungseinrichtung und diverses Gerumpel, zu Haufen getürmt. In der alten Aufbahrungs-halle ist heute eine Kunststoffsprit-zerei untergebracht. Und wenn auch alles andere schon zusammengebrochen ist, die steinerne Friedhofskassa steht noch immer am Eingang — voll mit Regenwasser.

Warum wird der Friedhof eigentlich unter Verschluß gehalten? „Die Steine sind alt und die Bäume sind morsch, da könnte leicht jemand verletzt werden“, sagt Frau Koubeks Schwiegertochter. Nun, man hat noch nicht gehört, daß alte Steine einen Menschen angefallen haben. Das dürfte also nicht der entscheidende Grund sein. Auf jeden Fall werden die Tierwelt und die Vegetation hier nicht gestört. Es gibt wilden Knoblauch und Igel, Buntspechte, Eichkätzchen, Heckenrosen und Äskulapnattern. Sicherlich der einzige Platz am Währinger Gürtel und auch in

der BUlrothstraße, wo sie in solcher Freiheit gedeihen können. Hier liegt der Ansatz eines Dschungels im Wiener Stadtgebiet, gerade auf dem Weg zur Höhenstraße.

Auch Abraham Nelby mußte daran glauben, denn ein Baum wuchs gerade unter seinem Grabstein hervor und schob im Laufe der Jahre den Stein auf die Seite. Samuel Goldschmidt und Therese Brandeis hingegen hatten schon seit jeher abgebrochene Baumstümpfe auf ihrem Grab — ein jüdisches Symbol für Selbstmord.

Bevor Frau Koubek hierher kam, führte Frau Schreiber das Regiment. Die allererste Herrscherin hier war jedoch Kaiserin Maria Theresia: sie schenkte das Gelände der Israelitischen Gemeinde. Als die Frau Schreiber noch gelebt hat, soll das hier ein Kinderparadies gewesen sein. Die Frau Schreiber war alt und konnte sich keinen Rat schaffen, die Kinder spielten Indianer zwischen den Gräbern und waren über die Mauer, bevor die Frau Schreiber sie fangen konnte. Einmal haben sie ihr sogar einen Totenkopf in die Kastanie vor dem Fenster gehängt. Erst vor fünf oder sechs Jahren wurde ein Sarg aufgebrochen — wohl in der Hoffnung, hier Reichtümer wie in einem Pharaonengrab zu finden. Die Schatzsucher fanden nichts — in dem aufgebrochenen Zinnsarg lag das Skelett noch einige Tage stramm, bevor es unter Lufteinwirkung in sich zusammenfiel.

Die Frau Schreiber war eine von denjenigen Schreibern, die vor Jahren die Gärtnerei im Haus der Straßenbahnremise gegenüber betrieben. Sie belieferten sowohl den katholischen wie auch den jüdischen Friedhof — Blumenverkaufen setzt also nicht wie Kanonenverkaufen Engagement voraus.

In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurde der Friedhof enteignet. Ein kleiner Teil wurde für eine Löschgrube requiriert. Eine Löschgrube dient der Lagerung von Sand, der bei Bränden zum Einsatz kommen soll. Der Rest wurde nur verwüstet. Dort, wo früher die Löschgrube war, steht heute der Arthur-Schnitzler-Hof. Frau Koubeks Schwiegertochter erzählt: „Bei uns in Waidhofen an der Thaya hat man das Krankenhaus auf den alten Friedhof gebaut. Beim Baggern sind dauernd Knochen in die Quere gekommen. Aber die sind da nicht so.“

Nach dem Krieg kam etwas Leben in den Friedhof: Unterstandslose begannen hier zu übernachten. Man brach zum Beispiel die Familiengruft der Biedermanns auf und übernachtete drin. Als es kälter wurde, brach man von den Biedermanns zu den daneben liegenden Kohns durch — bei den Biedermanns stieg man ein und übernachtete, vom Wind geschützt, bei den Kohns. So halfen auch dem Heinrich Wilhelm Edlen von Weinhartstein die Edelmetallverzierungen an seinem Grabstein nichts — sie mußten wahrscheinlich für den Wiederaufbau herhalten. Eine Zeitlang war der Friedhof auf eine Seite hin offen, als nämlich gleich nebenan eine Buchdruckerei gebaut wurde. Aus dieser Zeit stammt wahrscheinlich die Inschrift „Waren hier, ihr Deppen“ auf dem Grabe Menachem Abraham Russos (26 Kislew 5577 bis 7 Nissan 5634), gezeichnet „Josef + Leo“, aber leider undatiert.

In den letzten Kriegstagen bekam der Friedhof einige Treffer ab. Die Steine der Umgebung wurden durch den Druck auseinandergeschoben — die Bombentrichter wurden später mit Reisig angefüllt. Auch heute noch kommen diverse Gegenstände auf den Friedhof geflogen. Die Treffsicherheit ist besser als bei den Bomben — denn vom Fensterbrett aus trifft man leichter als beim Drüberfliegen vom Flugzeug aus.

Im Laufe der Zeit kamen Sektgläser, leere Kompottgläser — im Bie-dermannschen Familiengrab liegen sogar zwei abgefahrene Autoreifen. „Dort, wo die Terrasse ist, wohnt ein 13jähriger Schwachsinniger. Der schmeißt am Heiligen Abend immer Diverses auf den Friedhof. Letztes Jahr einen Photoapparat und ein

Parfümflascherl — den Apparat haben wir gefunden, das Flascherl noch nicht. Der Vater hat sich mittlerweile scheiden lassen“, erzählt Frau Koubeks Schwiegertochter. „Wir wollten ihn einmal verprügeln — aber seine Tante hat gesagt, daß das keinen Sinn hat.“

Bringt der Friedhof den Anrainern eigentlich Unglück? „Gehen Sie, wie die einmal gehört haben, daß der Friedhof verbaut werden soll, gab es einen Riesenkrawall: man will uns unseren Friedhof wegnehmen! Der Friedhof ist für die Leute wie eine Oase: diese frische Luft und diese Ruhe!“

Der Baumbestand wird auch von Zeit zu Zeit von einem Oberförster durchgesehen und die vertrockneten Stämme werden gekennzeichnet. Eine Teerfirma sägt diese Bäume dann gratis ab und darf sich dafür das Holz behalten. „Sonst würde nämlich der Käfer die Bäume befallen. Der greift sehr schnell um sich, und wo der Käfer einmal drinnen ist, kommt er nicht so schnell wieder heraus.“ Für die gute Waldluft wird also Sorge getragen — die Ruhe ergibt sich bei einem Friedhof ja ohnehin von selbst: die Anrainer können zufrieden sein.

Es sind noch nicht alle menscifr-lichen Schwächen aus der Welt, wenn der Leichnam begraben ist. So ließ Herr Schrey seiner Frau Therese „Einst warst Du aller Frauen Zier, nun ruhst Du still in kühler Erd“ in den Marmor kratzen. Auf diesem Friedhof liegt auch Dr. Leopold Landsteiner, dessen Sohn die menschlichen Blutgruppen entdeckt hat. Einige Gräber weiter Lisette Kohn, die, so Frau Koubeks Schwiegertochter, die Mutter des Leibarztes von Napoleon gewesen sein soll.

Die Koubeks erzählen von einem Schweizer Sänger: „Frischbach oder Frischbruch, der ist hereingekommen, hat einen Blick auf den Friedhof geworfen und ist mit ,Man hat mir meinen Stein gestohlen' in die Kultusgemeinde gelaufen. Es ist aber bei uns noch kein Stein weggekommen.“ Und auch Frischbruchs Stein hat sich gefunden.

Vom Währinger Park ist ein zerrissener Ball herübergefallen — für den die Währinger Kinder nicht mehr über die Mauer klettern wollten. Er liegt nicht weit von den Gräbern der Hellmanns: Clara, gestorben 1853, im Alter von 2 Jahren, Nina, 1856, 5 Jahre, und Henriette, 1854, 4 Jahre.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung