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Trauer,Trost und Hoffnung

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Zehntausende Menschen werden auch heuer wieder zu Allerheiligen in die Friedhöfe pilgern. Die Autorin hat den drei Millionen Toten Wiens einen Besuch abgestattet.

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Zehntausende Menschen werden auch heuer wieder zu Allerheiligen in die Friedhöfe pilgern. Die Autorin hat den drei Millionen Toten Wiens einen Besuch abgestattet.

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„Endstation” — und nicht nur für die Straßenbahnlinie 71. Sie bewältigt in diesen Tagen mit Sonderzügen den Besucherstrom zum Zentralfriedhof. Zu Allerseelen kommen auch solche» die zu anderen Zeiten dem Friedhof ängstlich aus dem Wege gehen, als fürchteten sie, er könne vor der Zeit nach ihnen greifen.

Für viele gehört der Zentralfriedhof zum täglichen Leben, sie besuchen ihre Toten häufig, fühlen sich ihnen hier besonders nahe. Bekanntschaften, Freundschaften werden hier geknüpft, und mitunter wird die Grablaterne zweckentfremdet zum Briefkasten, um Botschaften zu hinterlassen.

Das ist der Zfntralfriedhof auch: ein Kommunikationszentrum ganz besonderer Art, entstanden aus dem Besuch und der Pflege der Gräber.

In diesen Spätherbsttagen, wenn die Welt grau zu werden beginnt, entfaltet sich innerhalb dieser Mauern die volle Blütenpracht. Die Friedhofsgärtner haben Hochbetrieb, jedes der 40.000 Gräber, die von 30 Friedhofsgärtnereien betreut werden, verlangt jetzt seinen besonderen Schmuck.

Friedhofsgärtner: ist das nicht ein deprimierender Beruf, sozusagen unter dem Motto: „Ihr Tod - unser Brot”?

Es ist anders. Die Pflege des Grabes dient nicht dem Toten, sie ist Trost für die Lebenden. Es entwickelt sich hier — gerade hier im Massenbetrieb des Zentralfriedhofs — ein sehr persönliches Verhältnis 1 zwischen den Gärtnern und den Angehörigen der Toten. Niemand weiß, wieviel Leid in den Büros dieser Gärtnereien abgeladen, wieviel Trost gespendet wird.

66 Kilometer Straßen, die mit dem Auto befahren werden können, führen durch den Friedhof. Eichhörnchen huschen darüber weg, ein Fasan überquert die Straße knapp vor dem Auto. Er hat keine Angst um sein Leben in dieser Stadt der Toten. Aber einmal im Jahr müssen auch die Tiere auf dem Zentralfriedhof um ihr Leben bangen, einmal im Jahr ist Jagd zwischen den Gräbern.

Jagdlärm hatte schon die Einweihung des Friedhofs 1874 gestört. „Während im Innern des Friedhofs die Zeremonie vorgenommen wurde”, hieß es in einem Zeitungsbericht, „fand gleichzeitig in der Nähe eine Hasenjagd statt, und die Schüsse der Jäger knallten lustig zwischen die Gebete der einweihenden Priester.”

„Lustig”: behauptet nicht der Witz, der Zentralfriedhof sei zwar nur halb so groß wie Zürich, aber doppelt so lustig?

Die Flächenausdehnung des Zentralfriedhofs dürfte tatsächlich etwa der Hälfte der von Zürich entsprechen, aber an Zahl der „Einwohner” hat der Zentralfriedhof Zürich weit überflügelt. Etv^a 3 Millionen Tote wurden seit den ersten 13 Beerdigungen zu Allerheiligen 1874 auf dem Zentralfriedhof beigesetzt. Zwölf davon waren damals gemeinsam in ein Schachtgrab gekommen, nur der Privatier Jakob Zelzer konnte sich ein eigenes Grab leisten. Er war die erste „schöne Leich’ mit großem Pomp” auf dem neuen Friedhof. Noch heute gibt es dieses Grab mit der Nummer 1.

Drei Millionen Tote: die Zahl ist so groß, daß sie zur Masse wird. Und doch hat jeder dieser Toten sein ganz persönliches Sterben durchlitten, ist um jeden dieser Toten das Leid zurückgeblieben.

Jedes der Gräber erzählt seine Geschichte, die Einzelgräber wie die Gedenkstätten für die Opfer politischer Unruhen, für die Toten in den Konzentrationslagern und für die Bombenopfer. Auch „dem Andenken der bei dem Brande des Ringtheaters am 8. Dezember 1881 Verunglückten” ist eine Gedenktafel gewidmet. Ein weites Feld mit den Gefallenen von 1914—1918 und ein Denkmal mit der Inschrift: „Herr, gib uns Frieden!” Und trotz dieser

Bitte: Tausende von gleichen Steinkreuzen die Toten’des Zweiten Weltkriegs.

Der alte jüdische Friedhof ist verwahrlost, dite „Zeremonienstraße” von Gras überwuchert. Das Rothschild-Grabmal steht noch; der letzte Rothschild wurde 1955 hier beigesetzt — im Exil in Jamaica gestorben, aber begraben hier, bei seinen Vätern. Ein einfaches Grabmal, das die Blicke nicht auf sich zieht. Eine vergoldete Kuppel über rotem Marmor aber ist nicht zu übersehen: das Grab des „Zigeunerkönigs” in den Arkaden.

Nicht weit davon, einfach und würdig, die Bundespräsidentengruft: Hier ruhen die Bundespräsidenten seit Karl Renner. Die Grüfte unter der Dr. Karl-Lue- ger-Gedächtniskirche sind alle belegt. Der erste, der hier begraben wurde, war Bürgermeister Lueger selbst. Er hatte bei der Einweihung 1908 den ersten Hammerschlag getan, drei Jahre später wurde er hier beigesetzt, unter dieser Begräbniskirche, einem der bedeutendsten Werke des Jugendstils in Wien.

Gräber erzählen

Mehrere hundert Ehrengräber für Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik bilden einen besonderen Anziehungspunkt des Friedhofs. Eine neue Reihe, in diesem Jahr eröffnet, besteht bis jetzt aus zwei Gräbern: Max Böhm und Friedrich Heer. Im Leben hatten sie einander wohl kaum etwas zu sagen, nun liegen sie nebeneinander.

Endstation. Oder doch nicht?

Auf dem Grab von Hansi Niese- Jarno tröstet ein Zitat aus Strindbergs „Totentanz”:

„Vielleicht, wenn der Tod kommt, beginnt das Leben!”

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