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Allerheiligen hinter Stacheldraht
Am Bittersee, 1. November 1946
Wieder Allerheiligen. Zum zweitenmal in der Gefangenschaft. Wenn wir auch noch durch tausende Kilometer getrennt sind, so weißt du heuer wenigstens, daß ich zu euch zurückkehren werde. Ich besuchte heute den hiesigen Soldatenfriedhof, wo eine schlichte Feier abgehalten wurde, bei der wir, die wir jetzt um unsere nahe Heimkehr wissen, derer gedachten, die ihre Heimat nicht mehr wiedersehen werden.-Für viele-der Toten, die hier ruhen, war es wahrscheinlich das erste und letzte Mal, daß Landsleute an ihren Gräbern standen. Wenn der letzte Kriegsgefange Ägypten verlassen haben wird, werden sie für immer einsam und verlassen in fremder Erde ruhen. Wohl liegen ihre Gräber an einer Weltstraße, und täglich durchqueren Schiffe den Suezkanal,' Schiffe mit Lebenden an Bord, die in allen Erdteilen ihren irdischen Geschäften nachgehen. Aber niemand wird auf dieser Fahrt nahe am Soldatenfriedhof Fayid vorbei daran denken, daß auch in diesem fernen, fremden Lande Menschen aus der Heimat ruhen. Nicht einmal die engsten Angehörigen können sich Soldatenfriedhöfe in Ägypten vorstellen: In ihrem Hintergrund die blauen Fluten des Bittersees, am Rande des Friedhofs ein paar Palmen und ein schmaler Streifen Grün, mäßige Hügelketten' aus Sand auf der änderen Seite, und darüber ein Himmel, dem man es nicht zutrauen würde, daß unter ihm Leben ersterben kann. Manche der hier Ruhenden sind erst in der Gefangenschaft gestorben, andere sind auf den Schlachtfeldern verwundet worden, andere gefallen. Ihnen allen ist Afrika zum Schicksal geworden. Angehörige vieler Nationalitäten sind hier im Tode versammelt: Engländer, Belgier, Juden, Kanadier, Franzosen, Österreicher, Deutsche. Über ihren Gräbern steht zumeist das Kreuz, dem sie im Leben dennoch so tödlich entfremdet waren. Nirgends anders als hier wird einem so deutlich bewußt, daß diese Menschen in einem Bruderkampf gefallen sind — daß das religiöse Symbol, das zu ihren Häupten steht, für ihr Leben so weitgehend und so tief tragisch ohne Inhalt und ohne Kraft gewesen ist. Denn dieser Friedhof mit einen hunderten Kreuzen liegt im Schattin des Halbmondes auf dem Boden eines anderen Glaubens, in einer anderen Kulturwelt. Es ist fürwahr ein Lebensziel, dafür zu arbeiten, daß niemals mehr ein Kreuz in fremdem Land über den Gräbern von Europäern aufragt.
Aus dem Buch „P. O. W. 332.624. Tagebuch eines Kriegsgefangenen“ von Thomas Rosner, Herold-Verlag, Wien-München.
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