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Ein Minister geht zu weit

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Ein Mann, der sich in seinem Wirkungskreis redlich bemühte, mit dem serbischen Bevölkerungsteil in Bosnien und Herzegowina ein gutes Einvernehmen zu erzielen, war Ritter von Bilinski, dem die Zentral- leitung der bosnischen Angelegenheiten oblag. Bilinski war kaiserlicher und königlicher Finanzminister, also Inhaber eines der drei gemeinsamen Ministerien der beiden Staaten Österreich und Ungarn. Das an und für sich löbliche Bemühen des schwarzgelben Polen Bilinski, die „hierländischen” Serben zur Mitarbeit heranzuziehen und gleichzeitig den selbstbewußten Nationalstaat Serbien nicht vor den Kopf zu stoßen, schaffte, ohne daß er es wollte, Voraussetzungen für das tragische Geschehen in Sarajewo. Der Minister ging entschieden zu weit, viel zu weit, denn er schreckte sogar davor nicht zurück, der Staatsanwaltschaft in den Arm zu fallen …

Ein guter Fang

Doch gerade dieser Fall, weil unbekannt und symptomatisch, ist einer Untersuchung wert.

Wieder handelt es sich um einen Halbwüchsigen, wieder um einen Gymnasiasten. Er hieß Drljevič, war ein Freund Princips und stieg, ein Holzköfferchen in der Hand, an einem Sommertag des Jahres 1912 in Sarajewo aus dem Zug. Von Agram kommend, wo sein Kumpan Jukič auf den Banus von Kroatien geschossen hatte, glaubte sich Drljevič in Bosnien sicher. Doch die Polizei warf ein Auge auf ihn und sein Köfferchen. Sie griff zu. „Wir machten einen guten Fang”, beteuerte der verantwortliche Polizeichef, Baron Collas:

„Der Koffer war ausschließlich mit der Korrespondenz der Jugendvereinigungen gefüllt, welche das ganze in Kroatien, Bosnien und der Herzegowina von Belgrad gesponnene Agitationsnetz aufdeckte. Zwei Stunden nach der Verhaftung seines Besitzers unterbreitete ich den Fall dem zur Verhandlung in Sarajewo weilenden Minister für Bosnien, Herrn Bilinski.

Der Minister sah, daß auf Grund des mir vorliegenden Materials sofort einige führende Politiker hätten verhaftet werden müssen, erklärte aber gleichzeitig, daß damit auch der politische Erfolg seiner Reise, ohne den er nicht zum Kaiser zurückkehren wollte, ausgeschlossen sei. Er gab den Auftrag, die ganze Affäre im Keim zu ersticken, indem er die sofortige Freilassung des Drljevič und noch dazu die weiterhin unbesehene, vollständige Rückgabe seiner Schriften verfügte.”

Eigene Schuldgefühle

Der Polizeichef war Ungar und möglicherweise dem polnischen Minister nicht wohlgesinnt. Es kann auch sein, daß ihn sein Gedächtnis trog. Oder vielleicht wollte Baron Collas als Mitverantwortlicher für das Attentat 1914 — ihm war zusammen mit seinem Landsmann Dr. Gerde die Sorge für den Polizeischutz anvertraut — eigene Schuldgefühle abreagieren?

Das ist möglich, aber im Fall Drljevič können wir auf subjektive Beurteilungen verzichten. Er ist in den Akten festgehalten. Eingeleitet wurde die Affäre durch ein Ersuchen der Agramer Polizei und der Verhaftung des Drljevič wegen dringenden Verdachts der Organisierung von Attentaten (Wortlaut liegt vor). Die Anzeige mußte bearbeitet und damit der Fall aus der Welt geschafft werden. Das geschah durch einen bürokratischen Hexenmeister, der ausführte, WoifiEe wie „Organisationen” und „Resolutionen”, wie sie in der Korrespondenz des Drljevič öfter vorkamen, seien an und für sich unverdächtig. Die Ideen, für welche die Jungen zu kämpfen und zu sterben sich bereit erklärten, bezögen sich auf kulturelle Organisationen. Da es nun unter den Jugendlichen nachweisbar solche Organisationen gebe, sei die Verteidigung Drljevič’ durchaus glaubhaft. Und die vorkommenden revolutionären Parolen? Das seien nur Scherze, bombastische Ausdrücke und Produkte jugendlicher Phantasie. („Erwägungen” der Staatsanwaltschaft Sarajewo unter Zahl 2406 ad Präs, vom 23. VI. 1912.)

„Aus allen diesen Gründen” beantragte die Staatsanwaltschaft die „Zurücklegung” der Anzeige. Gezeichnet: Dr. Simič m. p. — Gelesen und einverstanden: Dr. Holländer m. p., Oberstaatsanwalt. — Genehmigt: Shek.

Shek war 1912 Präsidialchef der Landesregierung. Sein Vertrauensmann, Milusič, wurde im August 1914 „wegen großserbischer Agitation” verhaftet.

Die Genehmigung der Zurücklegung der Anzeige trägt das Datum des 23. Juni 1912.

Am 8. Juni, also zwei Wochen vorher, war der Anschlag des Jukü erfolgt. Die Agramer Polizei hatte den dringenden Verdacht, daß er mit Drljevič in Verbindung stehe.

Am 26. Juni, drei Tage nachdem die Anzeige gegen Drljevič zurückgelegt wurde, ging ein Schreiben der Verschwörer von Sarajewo nach Belgrad.

Sein Inhalt war unverfänglich.

Doch die darin genannten Namen sind ein weiterer Beweis, wie die Fäden liefen, ein Beweis, daß die Polizei in Sarajewo mit Drljevič eine Schlüsselflgur der Attentatsbande des Jahres 1914 festgenommen hatte und wieder laufen ließ.

Absender des Schreibens war Milos Pjanic, Princips Freund. Empfänger war Borko Jeftič, ein anderer Freund und Mitverschworener in den Junitagen 1914.

In den Zeilen ist ferner Drljevič erwähnt, der Bursche mit dem Holzkoffer, und selbstverständlich Princip.

Nebenbei wird ein gewisser Ivo genannt. Über ihn stand nur so viel: „Ivo hat die Matura einstimmig bestanden, Heil!”

Damit ist Ivo Andric gemeint, einer der eifrigsten unter den jungen Verschwörern.

Amtlich: ein harmloser Schwärmer

Mit dem Namenszug des Oberstaatsanwaltes Dr. Holländer winde zwei Wochen nach der Agramer „Generalprobe” für Sarajewo der radikalsten Jugendbewegung Europas die Bahn frei gegeben, wurde der Gymnasiast Drljevič amtlich zum harmlosen Schwärmer erklärt — und das aus Gründen politischer Räson.

Einer politischen Räson, mit der man im alten Österreich den sich häufenden Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen versuchte. Ohne gelegentliche Rücksichtnahme, ohne Eingriffe dieser und ähnlicher Art wäre man, so die allgemeine Auffassung, elendiglich festgefahren. Österreich-Ungarn auf dem krisenreichen Entwicklungsgang vom Absolutismus zur Volldemokratie — beides für Vielvölkerstaaten denkbare Staatsformen — war in ein gefährliches Übergangsstadium geraten. Die Bande der Gemeinsamkeit lockerten sich.

Bilinski wurde übergangen

Das Walzerland an der Donau, das sich nach außen noch immer recht biedermeierlich-gemütlich zu geben verstand, entwickelte sich immer mehr zu einem Land der Unverträglichkeit. Die Unduldsamkeit der Gruppen und Grüppchen übertrug sich auf Personen und Institutionen. Kontaktmangel kann zum sozial-pathologischen Problem werden. Die letzten Jahre der Monarchie sind ein Beispiel dafür, und das Schulbeispiel ist die Reise des Thronfolgers nach Bosnien. Weil man schlecht aufeinander zu sprechen war, sprach man nicht miteinander. Statt Koordination — Disharmonie. Das kühle Verhältnis des alten Kaisers zum Thronfolger ist bekannt. Bilinski konnte Potiorek nicht leiden, aber auch der Thronfolger nicht Büinski. Die kaiserliche „Kanzlei” verkehrte kaum mit der „Kanzlei” des Erzherzogs. Das wiederholt sich in hundert Variationen, von oben nach unten, bis zur Polizei in Sarajewo, die der Staatsanwaltschaft mißtraute und die Gefangenen bei sich zurückhielt. Die Verstimmung zwischen dem Erzherzog und Bilinski hatte zur Folge, daß das Finanzministerium als zuständiges Ministerium für Bosnien nicht über die Thronfolgerreise informiert wurde. Nicht aus Schlamperei — die man den Österreichern oft zu Unrecht nachsagt—, nein, in teuflischer Lust, die der Brüskierung, wie aus dem sorg- samst zusammengestellten Verteiler des Reiseprogramms hervorgeht. Bilinski war nicht zuständig und lehnte deshalb jede Verantwortung für die Katastrophe ab. In dieser Hinsicht nicht zu Unrecht. Doch drückte ihn eine andere Sorge, diese verwünschte Geschichte mit dem Holzkoffer.

Und er versuchte den General Potiorek einzuschüchtern und machte ihm handfeste Vorwürfe wegen der Verschwörertätigkeit in den Schulen. Doch dieser kannte des Ministers Achillesferse allzu genau, und er schrieb zurück:

„Ohne mit der im wesentlichen berechtigten Kritik der traurigen Verhältnisse an unseren Mittelschulen polemisieren zu wollen, möchte ich doch Eurer Exzellenz eine Unterredung ins Gedächtnis rufen, die Ende Juni 1912, als Eure Exzellenz in. meinem Bürozimmer in Sarajewo weilten, stattfand. Es ging um den Fall Drljevič; bei ihm wurde ein Koffer voll Korrespondenzen gefunden, welche den Indizienbeweis für den Bestand einer staatsgefährlichen Schülerorganisation erbrachten und außer Drljevič weitere dreißig Schüler schwer kompromittierten … Aus dieser Eurer Exzellenz gewiß erinnerlichen Episode geht zur Genüge hervor, daß das gemeinsame Finanzministerium, beziehungsweise Eure Exzellenz selbst, über das Bestehen von geheimen Schülerorganisationen keineswegs im unklaren war. Daß die damalige Verfügung Eurer Exzellenz auf den Eifer der politischen Behörden hinsichtlich Aufdeckung von geheimen Schülerverbindungen nicht ohne Einfluß bleiben konnte, liegt auf der Hand.” (Präs. 1600 B. v. 19. IX. 1914.)

Der fehlende Eifer „hinsichtlich Aufdeckung von geheimen Schülerverbindungen” zeitigte nachhaltige Folgen: Dem Mordsonntag von Sarajewo folgten Hochverratsprozesse am laufenden Band, in der Hauptsache gegen Schüler, gegen Lehrer und Geistliche. Selbst der Landesschulinspektor, der kroatische Dichter Alaupomč, stand vor den Richtern. Als Poeten wurden ihm mildernde Umstände zugebilligt. Die neuen Herren von 1919 belohnten seine Ahnungslosigkeit, mit der er das blu’i’eigėn-. und RojtibiEnįrliben der, k.,, injpZeit geduldet, hatt .und ernannten ihn zum Kultusminister. Sein Kollege, der Kriegsminister der bosnischen Nationalregierung, war ein alter Freund von ihm, nämlich der frühere Direktor der Sarajewoer Handelsakademie, Doktor Zakula.

Stipendium für den Verschwörer

Die leidige Holzkofferaffäre fand bereits 1914 einen Abschluß. Erstens mit der Befürwortung eines Hoch- schulstipendiums für den braven Drljevič durch die Landesregierung und zweitens mit einer mokant-höflichen Entgegnung des Ministers auf die Anzüglichkeiten des Landeschefs. Das heißt, es blieb beim Entwurf einer Entgegnung, denn Bilinski überlegte sich die Sache. Nachdem ein hoher Ministerialbeamter auf den Akt gekritzelt hatte: „Der Brief Seiner Exzellenz Potiorek ist eigentlich ein Fehdehandschuh. Sollen wir ihn aufheben?”, schrieb der Minister zwei Worte, zwei entscheidende Worte, auf den Entwurf: ad acta, Wien, 20. IX. 1914. (Entwurf eines Antwortschreibens Sr. Exz. des Herrn Ministers an Se. Exzellenz den Landeschef in Sarajewo.)

Der Entwurf für das Antwortschreiben des Ministers stammte aus der Feder seines Vertrauensmannes für bosnische Angelegenheiten, Regierungsrat Dr. Cerovič, der gerade eine peinliche Disziplinarunter- ; suchung hinter sich hatte. Grund: der allzu intime Verkehr mit der serbischen Gesandtschaft in Wien • und Potioreks Beschwerde, Dr. Cero- 1 vič habe den serbisch-nationalen Politikern Bosniens Einblick in 1 seine vertraulichen Berichte gewährt.

Doch das ist ein anderes Kapitel. In der nächsten Nummer: Die ausgesperrte Polizei.

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