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Die Schuldigen und die Verantwortlichen

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FRAGE: Herr Würthle, Sie sind

der Autor unserer Dokumentation „Die Schuldigen und die Verantwortlichen“, die in der nächsten Nummer der „Furche“ beginnt. Sie haben schon im Titel das Thema Ihrer Untersuchung ziemlich genau abgegrenzt: Sie sind den verwischten Spuren der Attentäter von Sarajewo nachgegangen, Sie sind auf die Suche nach den Originalakten und Protokollen gegangen, ohne Ihre Arbeit etwa auf die vieldiskutierte „Kriegsschuldfrage“ auszudehnen. Was hat Sie dazu veranlaßt, mit einer Methode, vergleichbar einer Mischung aus Kriminologie und Geschichtswissenschaft, den Fall dieses ein halbes Jahrhundert zurückreichenden politischen Mordes nochmals aufzurollen?

ANTWORT: Ich gehöre dem Jahrgang 1902 an. Und da erinnere ich mich noch ganz genau an jenen schönen Sommertag. Ich ging damals gerade in der steirischen Hauptstadt Graz auf dem Schloßberg spazieren, als sich unter den Bummlern blitzschnell die Nachricht vom Attentat in Sarajewo verbreitete. Doch ist dies natürlich nicht letzter Anlaß meiner Arbeit. Ich hatte ursprünglich vor, den Wurzeln des Antisemitismus in Österreich nachzuspüren. Doch während der ersten tastenden Versuche an diesem heißen Thema fiel mir Verschiedenes auf. So etwa, daß ein großer Teil der serbischen und österreichischungarischen Archivalien im Verlauf der beiden Kriege verschwunden ist, verlagert, vernichtet worden war. Dies brachte mich auf den Gedanken, den noch vorhandenen Akten über die Untersuchung des Sarajewoer Attentats nachzugehen.

FRAGE: Sie arbeiten doch sicherlich schon längere Zeit an dieser Untersuchung. Werden Sie von irgendeiner Stelle bei Ihren Forschungen unterstützt?

ANTWORT: Ich arbeite schon mehr als ein Jahr daran, teils in österreichischen, teils in jugoslawischen Archiven. Beste Unterstützung leistet mir vor allem das Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten, dessen Hilfe mir sonst möglicherweise verschlossen gebliebene Türen öffnete.

FRAGE: Sie deuteten vorhin an, daß — bedingt durch die in beiden Kriegen verlorengegangenen Akten — die Quellenlage recht problematisch sei. Welche Quellen standen

Ihnen für Ihre Untersuchung zur Verfügung?

ANTWORT: Kanzleiofflzial Johann Korda von der Hilfsämter-direktion der Landesregierung für Bosnien und Herzegowina verfaßte über das erste — fehlgeschlagene — Attentat einen Amtsvermerk. Der erhielt die Kanzleizahl 1. Kurz darauf verfertigte der Offlzial eine zweite Meldung, die die „Nachzahl“

la erhielt. Ihr Inhalt ist die Nachricht vom Revolverattentat Gavrilo Princips und dessen Gelingen. Dieser schlichte Amtsvermerk 1 a wird zum ersten bürokratischen Niederschlag einer neuen Epoche, wovon der Verfasser, Kanzleiofflzial Korda, sicher nichts ahnte. Ein unbarmherziges Schicksal produzierte Millionen Nachzahlen, amtliche Dokumente einer apokalyptischen Heimsuchung: Vernehmungsprotokolle, Anklageschriften, Urteile, Hin-richtungsbestätigunigen, Kommuniques, Diplomatenrelationen, Kon-fldentenberichte, Noten, Aide-memoires, Dossiers, Ultimaten, Kriegserklärungen, Proteste, Standgerichtsurteile, Aktennotizen und Geiselerschießungen, Heeresberichte,

Kapitulationsurkunden, Friedensverträge und am Ende Suchlisten und Totenregister für mehr als zehn Millionen Menschen. Selbstverständlich kam von diesem ungeheuren Berg an Akten, der in den Archiven der Welt verstaubt und vermodert, für meine Arbeit nur ein verschwindend kleiner Teil in Frage.

Meine Arbeit war es nun vor allem — und damit erst beantworte ich Ihre Frage —, die noch erhaltenen Akten herauszusuchen und sie mit den Berichten des Landeschefs, General Potiorek, die in der offiziellen österreichischen Aktenpublikation „Österreich-Ungarns Außenpolitik“ veröffentlicht wurden, zu vergleichen.

FRAGE: Wichtigste Grundlage Ihrer Arbeit werden wahrscheinlich das Verhandlungs- und das Untersuchungsprotokoll gewesen sein, die vermutlich noch erhalten sind.

ANTWORT: Beide Protakolle sind

noch erhalten. Das Verhandlungsprotokoll hat eine recht ungewöhnliche Geschichte: Statt der üblichen beiden Teams von je drei Stenographen schrieben nur zwei Schreiber den Gang der Verhandlung mit, nämlich ein Lehrer und ein Oberschüler. 1923 verfaßte der Lehrer — damals ja bereits Bürger des SHS-Staates — auf Grund der gesammelten Stenogramme ein Protokoll, das schließlich 1954 als Buch herausgegeben wurde. Offizielle deutsche Übersetzung existiert keine. Der steirische Hauptschuldirektor i. P. Wilhelm Brantner beschäftigt sich jedoch mit dem Text und hat eine Übersetzung davon angefertigt, die mir eine sehr willkommene und brauchbare Arbeitsunterlage ist.

Das Untersuchungsprotokoll dagegen ist zusammen mit dem übrigen Nachlaß im sogenannten „Franz-Ferdinand-Archiv“, dessen Benützung nur nach besonderer Genehmigung gestattet ist, im Wiener Haus-Hof- und Staatsarchiv aufbewahrt. Das Untersuchungsprotokoll wurde meines Wissens noch nie ausgewertet.

Eine weitere Quellengruppe, die mit dem Thema meiner Untersuchung aufs engste verbunden ist, stellen die kurzerhand „Bosnische Akten“ genannten Akten des k. u. k. Finanzministeriums dar, unter dessen Verwaltung Bosnien und die Herzegowina ja schließlich gestanden sind. Auch diese Gruppe von Akten hat ein merkwürdiges Schicksal erlitten, wurden sie doch 1919 übSr Veranlassung des früheren k. u. k. Hofrates Cerovic nach Bosnien gebracht, 1941 wieder nach Wien transportiert und einige Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges neuerlich nach Sarajewo verlagert, wo sie jetzt der Wissenschaft wieder zugänglich sind.

FRAGE: Neben diesen ungedruckten Quellen gibt es zweifellos noch eine ganze Reihe von Quellenpublikationen, die Sie für Ihre Arbeit verwendet haben?

ANTWORT: Sehr richtig! Und da konnte ich eine bemerkenswerte Feststellung machen: In einer von Nicola TrisiJ veröffentlichten Bibliographie über das Attentat von Sarajewo zeigt sich, daß der Anteil österreichischer Wissenschaftler an der Erforschung der Hintergründe des Attentats sehr gering, der jugoslawischer Historiker dagegen ungewöhnlich groß ist. Eine Erklärung dafür zu geben, bin ich nicht in der Lage, doch ist mir bekannt, daß während des Jahrzehnts der alliierten Besetzung, 1945 bis 1955,

mehr als einmal von alliierter Seite auf die Forschungsarbeit über das Vorkriegsserbien eingewirkt wurde.

FRAGE: Die Fäden, die die Verschwörer untereinander verbanden, müßten doch ein riesiges Spinnennetz ergeben. Ein Spinnennetz, das an jenem Junitag 1914 gespannt war.

ANTWORT: Neben einer ausführlichen Zettelkartei mußte ich bei der Fülle der ähnlich klingenden serbischen Namen dazu übergehen, die Kreuz- und Querverbindungen der Verschwörer graphisch darzustellen. Und dies ergibt — wie Sie zu Recht festgestellt haben — ein Bild, nicht unähnlich einem Spinnennetz.

FRAGE: Ebenfalls kaum untersucht scheint uns das geistige Fundament zu sein, auf dem die drei Attentäter mit so unerhörter Sicherheit und fast besessenem Eifer ihren Plan ausarbeiteten und schließlich in die Tat umsetzen konnten. War es Ihnen möglich, diese geistigen Ein-

flüsse — gleichgültig welcher Richtung — zu erhellen?

ANTWORT: Ein Schlüssel dazu stellt meiner Ansicht nach die Dokumentensammlung „Mlada Bosna“ dar, die in einer Vielzahl von gesammelten Briefen die geistige Haltung und die Verbindungen der Verschwörer untereinander zeigt. Greifen wir doch einen der Verschwörer heraus. Am besten den Revolverschützen Princip. 1912 verließ dieser strebsame, krankhaft ehrgeizige Schüler das österreichische Sarajewo, um sich in Serbien freiwillig zum Partisanenkampf gegen die Türken zu melden. Mit der Briefbotschaft „Lebt wohl, ich falle“ nahm er von seinen Freunden Abschied. Doch jagte man ihn, bevor noch der erste Schuß fiel, wegen allgemeiner Körperschwäche nach Hause. So schwor er, sich eben, im Kampf gegen die „christlichen Türken“ — wie man in seinen Kreisen die Österreicher nannte — aufzuopfern.

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