7106298-1995_33_04.jpg
Digital In Arbeit

Geschichte studieren, um Haß abzubauen

19451960198020002020

Aus der Geschichte lernen, um im Frieden zu leben? Bosnien scheint dies zu widerlegen. Und dennoch sollte man diese Hoffnung nicht aufgeben.

19451960198020002020

Aus der Geschichte lernen, um im Frieden zu leben? Bosnien scheint dies zu widerlegen. Und dennoch sollte man diese Hoffnung nicht aufgeben.

Werbung
Werbung
Werbung

Als ich Anfang der siebziger Jahre an einem Roman über den römischen Kaiser Diokletian arbeitete, hatte ich Schwierigkeiten, die Eroberung Alexandriens zu beschreiben, die im Juli 296 erfolgte. Ich brachte den Befehl des Kaisers auf den Punkt: „Um Mitternacht vernichtet ihr alle Aquädukte. Wenn sie drei Tage ohne Wasser sind, Sturmangriff! Die Armee darf plündern!... Man mag so viele töten, bis das Blut der Alexandriner meinem Pferd bis an die Knie reicht.”

Damals ging die größte Bibliothek der Welt mit mehr als siebenhunderttausend Pergamentrollen, dem gesammelten Wissen der Menschheit, in Flammen auf. Ich hatte Mühe, mir vorzustellen, was in den Menschen vorging, die für das verantwortlich waren. Wieder daran gedacht habe ich, als ich die Nationalbibliothek in Sarajewo auf dem Fernsehschirm brennen sah. Natürlich verbrannte dabei nicht das gesamte Wissen der Menschheit, aber manche unersetzlichen arabischen Manuskripte. Ich dachte, die Geschichte wiederholt sich. Das einzig Neue ist, daß die Fernsehkameras die Ereignisse sofort in alle Winkel der Welt übertragen. Ich sitze im Sessel, knabbere an meinen Lachsbrötchen, trinke einen grünen Veltliner dazu und bin entsetzt. Oder ich schmeiße meinen Fraß hin und weine. Ich habe die Möglichkeit, so oder so zu reagieren, am Vorgang ändert das nichts.

Zur Zeit sind über 150.000 Menschen auf der Flucht. Weil es im Augenblick Serben sind, erinnert man sich daran, daß einige Jahre davor Kroaten und Moslems fliehen mußten. Manch einer denkt heimlich oder sagt es sogar: Recht geschieht ihnen, jetzt sind sie an der Reihe.

Man kann die Ursachen weiter zurück verfolgen, zwischen 1941 und 1945 wurden im unabhängigen Staat Kroatien von Hitlers Gnaden Juden, Serben und Roma in zahllosen Konzentrationslagern - das bekannteste von ihnen, Jasenovac, war nur das größte - ermordet. Die Serben, der Krajina haben sich vom heutigen Kroatien abzutrennen versucht, weil sie erschrocken waren. Die Symbole des Ustaschastaates wurden vom neuen Kroatien übernommen. Zwar ist das neue Wappen Kroatiens, das rotweiße Schachbrett, ein uraltes heraldisches Zeichen der Kroaten, aber weiß das das einfache Volk? Wer denkt heute daran, daß das Hakenkreuz nicht von Hitler erfunden, sondern ein indisches Symbol aus der Vorzeit ist? Und die Souveränität des neuen Kroatiens wurde von Präsident Franjo Tudjman am selben 10. April verkündet, wie genau fünfzig Jahre davor das Kroatien des Ante Pavelic. Ungeschickt? Mag sein, aber mit Fol-

Wie lange zurück in die Vergangenheit muß man gegenseitige Verbrechen aufrechnen, um Frieden zu finden? Nicht in alle Ewigkeit, hoffe ich. Die „Erbfeindschaft” der Deutschen und Franzosen hat viel, viel länger gedauert als das Mißtrauen zwischen Serben und Kroaten. Die Deutschen und die Franzosen haben es überwunden. Wie?

Die Erbfeindschaft der Deutschen und Franzosen wurde auch überwunden

Oft habe ich ironisch daran erinnert, daß Charlemagne für die Franzosen ein großer französischer, für die Deutschen ein großer deutscher Kaiser war, die meisten Franzosen und Deutschen nicht daran denken oder es nie gewußt haben, daß das ein und dieselbe Persönlichkeit ist. Als ich das unlängst im Gespräch mit einem deutschen Historiker vorbrachte, belehrte er mich:

„Das wissen Sie noch nicht? Das ist doch schon seit fünfzig Jahren wissenschaftlich gelöst!”

„Wie?” wunderte ich mich.

„Nun, er war natürlich Europäer wie Adenauer oder De Gaulle.”

50 Jahre publizistischer, literarischer, wissenschaftlicher und natürlich politischer Bemühungen haben das Vorurteil, Deutsche und Franzosen müßten einander verabscheuen,

aufeinander zürnen, endgültig abgebaut. Das ist also möglich.

Vor kurzem habe ich einen Boman über die ungarischen Ereignisse von 1956 beendet, besser gesagt, ich habe ihn neu geschrieben, vor zehn Jahren habe ich ihn schon auf serbisch veröffentlicht. Damals hoffte ich, man würde ihn schnell ins Ungarische übersetzen. Das geschah nicht, mein potentieller Übersetzer teilte mir mit, man sei unzufrieden, weil ich Imre Nag)r zu affirmativ beschrieben habe. Nach einigen Jahren unternahmen wir einen neuen Versuch. Der Text fand wieder keinen Gefallen. Jetzt mißbilligte man, daß Janos Kadar zu positiv abgebildet sei. Ich bin jetzt neugierig, ob ich die allgemeine Stimmung in Ungarn getroffen habe oder ob ich Angriffe von beiden Seiten, jenen, die heute Kadars Gulaschkommunismus nostalgisch sehen, und jenen, für die er ein Massenmörder war, zu befürchten habe.

Am meisten belastet bei der neuen Beschäftigung mit diesem Material haben mich die Vergleiche mit dem heutigen Geschehen im ehemaligen Jugoslawien. In Ungarn war ich 1956 als junger jugoslawischer Journalist dabei. Natürlich fand ich vieles schrecklich, aber ich freute mich, daß es, wie ich damals sagte, „nicht mein Krieg war”. So denken wahrscheinlich die vielen Berichterstatter der Medien in Bosnien und in Kroatien. Es ist bei mir zu Hause, denn noch immer fühle ich sowohl Bosnien als auch Kroatien als mein Haus, meine Heimat - tausendmal schlimmer als es in Ungarn war, aber der junge Journalist und Photograph wird ungefähr so fühlen und denken, wie ich vor vierzig Jahren im heute, Gott sei Dank, friedlichen Ungarn. (Muß ich sagen „noch friedlich”? Gibt es nicht in Rumänien, der Slowakei, der Woiwo-dina hunderttausende Ungarn, die so denken und so fühlen wie die Serben der Krajina und denen eines Tages ein Budapester Milosevic zu Hilfe kommen könnte?)

Fühlen die Ungarn in der Slowakei so wie die Serben in der Krajina?

Als ich mich mit Ungarn 1956 beschäftigte, habe ich sehr genau die Bolle Moskaus und Washingtons studiert. Dort waren zwei alte Herren, die wußten, was Krieg ist. Chruschtschow und Eisenhower, und damals wurde auch im Sicherheitsrat debattiert, weil, was meist heute verdrängt und vergessen ist, zu gleicher Zeit die Suezkrise ausgebrochen war. Es war übrigens bisher das einzige Mal, daß im Sicherheitsrat die USA und die damalige Sowjetunion gemeinsam abstimmten, nämlich für den sofortigen Bückzug der Israelis, Engländer und Franzosen vom Suezkanal, der Beschluß scheiterte am Veto Englands und Frankreichs.

Eine wichtige Person meines Bo-mans ist der sowjetische Botschafter in Budapest Andröpow. Ich versuche zu beschreiben, wie er von den Ereignissen erschüttert war, so daß er später als Präsident der Sowjetunion zu seinem Nachfolger einen gewissen Gorbatschow auswählte, der, wenn auch nicht so, wie er sich das vorgestellt hat, indem er, unter anderem der Vereinigung Deutschlands zustimmte, die Welt verändert hat. und über die Bolle Andropows habe ich das meiste in AVien erfahren, von einem hohen russischen Funktionär. In der wiener Ausgabe war er gesprächiger als irgendwo sonst.

Ich habe zum Werk der Belletristen mehr Vertrauen als zu dem der Historiker

Noch einmal zur Geschichte. Was tun Historiker? Sie bewerten Dokumente. Was sind Dokumente? Schriftstücke, die jemand mit einem bestimmten Auftrag aufgezeichnet hat. Das gilt von den ersten Biographien der Kaiser Diokletian und Konstantin, Lactantius und Eusebius bis zu unseren Zeitgenossen, die versuchen werden, festzuschreiben, wie zum Beispiel diese Leute auf dem Balkan, Tudjman, Milosevic, Izetbegovic, zu beurteilen sein werden. Offen gesagt, ich habe im Prinzip zum Werk von Belletristen mehr Vertrauen als zu jenen der Berufshistoriker. Natürlich haben auch wir unsere Unschuld verloren. Auch wir schielen auf Opportunitäten, Auflagenhöhe, Medienurteile, aber in Sternstunden gelingt es uns manchmal, etwas Wahrheit in den Text zu schmuggeln.

Nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit? Nein, ich glaube nicht, daß das menschenmöglich ist. Aber ein Stück Wahrheit, das ist schon etwas. Das ist zu versuchen. Aus meiner Sicht allein schon mit dem Ziel, den Haß auf dem Balkan genau so abzubauen, wie es Deutschen und Franzosen gelungen ist. Und um in diese Bichtung tätig zu sein, ist Österreich ein gutes Pflaster.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung