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Goldkorner im troben Strom

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Zahlreiche illustrierte Zeitschriften, Wochenblätter und Tageszeitungen bringen seit 1945 Veröffentlichungen zur jüngsten Vergangenheit. Ob es sich nun um sensationell aufgemachte Hintertreppenromane der Weltgeschichte aus dem Blickpunkt eines ehemaligen Kammerdieners oder um Fortsetzungsberichte wesentlicher Ereignisse handelt, immer wieder sind es die flüchtigen Nachrichtenträger der modernen Presseerzeugnisse, die sich mit diesen Themen vorerst beschäftigen. Kaum eine der angeführten Veröffentlichungen findet später ihren kritischen Niederschlag in einer wissenschaftlichen Zeitschrift oder in Buchform, wenn auch erfreulicherweise einzelne Beispiele die Ausnahme von der Regel bestätigen.

Für den Historiker, der sich mit der zeitgeschichtlichen Forschung beschäftigt, ist diese Erscheinung eigentlich keine besondere Ueber-raschung. In seiner grundsätzlichen Untersuchung über „Aufgaben und Methoden zeitgeschichtlicher Forschung“ hat der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München, Universitätsdozent Dr. Paul K1 u k e, im „Europa-Archiv“ vom 5. April 1955 festgestellt, daß trotz der Vernichtung wichtiger Aufzeichnungen und Aktenbestände zur Zeitgeschichte ein unfaßbarer Reichtum an Aussagen vorhanden wäre. Der zweite Weltkrieg, seine Vorgeschichte, sein Ende und die Begleiterscheinung der großzügigen Entführung wichtiger Aktenbestände nach Ost und West, verursachte zunächst ein Vakuum, in das 194 5 die Dokumentenpublikationen des Nürnberger Prozesses sowie der diversen Nebenprozesse vorstießen. Die ernste Behandlung der Zeitgeschichte, wobei wir Zeitgeschichte — einer Definition von Hans Rothfels folgend — als „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ auffassen wollen, mußte den obgenannten Bestand an Quellen respektieren. Dabei kam es nicht darauf an, daß der Nürnberger Prozeß und die Nebenprozesse die Akten nach politischen Gesichtspunkten auswählten,' sondern lediglich darauf, daß wohlverwahrte Dokumente zur Zeitgeschichte zum Vorschein kamen. Das Aufspüren der verborgenen Quellen ist es ja, was den Historikern der jüngsten Vergangenheit so große Schwierigkeiten bereitet, aber anderseits gerade auf Gelegenheitspublikationen, Erlebnisberichte oder oft sensationell aufgemachte Memoiren hinweisen muß. Die Fülle mancher veröffentlichter Aktenserien kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß aus der Sprache der amtlichen Aufzeichnungen der totalitären und halbtotalitären Systeme unserer Zeit gar nicht oder oft nur unvollkommen der wirkliche historische Vorgang herauszulesen ist. Wie wäre etwa der 11. März 193 8 und seine schicksalhafte Verkettung mit der vorangegangenen Krise des 4. Februar 1938 in der deutschen Wehrmachtsführung durchschaubar, hätten wir nicht Aufzeichnungen der persönlich Beteiligten, wie Hoß-bach oder die Erinnerungen Kielmannseggs über den Prozeß gegen Generaloberst Fritsch. Aber Aufzeichnungen und Akten versagen, gerade, um tseim gleichen Beispiel zu bleiben, angesichts der modernen Nachrichtenmittel, des Telephons, des Fernschreibers und des mithörenden Magnetophonbandes, dessen bedienende Kräfte meistens die Ueberwachungsstellen und Geheimdienste waren. Die historischen Telephonate zwischen Göring und dem Ballhausplatz, zufällig erhalten durch die Aufzeichnung einer Ueber-wachungsorganisation, gaben erst eine richtige Folie zum Verständnis der Vorgänge.

Damit ist schon angedeutet, daß trotz der Ueberfülle an Quellen gewaltige Lücken offen sind, weil eben die Mittel der modernen Diplomatie, Politik und ideologischen Kriegsführung auf weiten Wegstrecken sich nicht mehr der herkömmlichen Aktenaufzeichnung der klassischen Diplomatie des 19. Jahrhunderts bedienten. Dazu kommt noch, daß die einzelnen Problemkreise nicht mehr auf ein Land beschränkt bleiben, sondern weit über die Grenzen hinausgreifen und daher eine Zusammenarbeit der Historiker der Zeitgeschichte auf internationaler Basis erfordern. Entsprechende Ansätze sind bereits vorhanden. Schon vor Jahren hat in Holland, das durch die Gründung eines vorbildlichen Instituts zur Erforschung der Geschichte und Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges europäischen Vorrang hat, eine Aussprache von Historikern und Völkerrechtlern stattgefunden. Die Tagung der deutschen Institute für Völkerrecht, internationale Beziehungen und Zeitgeschichte am 4. Dezember 1954 {n Frankfurt bildete eine Ergänzung und Ausweitung der so notwendigen internationalen Gemeinschaftsarbeit, der sich auch kleinere Staaten wie etwa Oesterreich auf die Dauer nicht ausschließen werden können.

Bei allen diesen Beratungen hat die Klärung über die Quellengrundlage zur Zeitgeschichte und ihre Wertung eine wichtige Rolle gespielt. Man kam dabei zu dem Ergebnis, daß die Veröffentlichung von Quellenpublikationen auf Grund der vorhandenen Akten wünschenswert sei, und die diesbezüglichen Bemühungen von englischer, amerikanischer, deutscher und französischer Seite haben bereits erfreuliche Ansätze gezeigt.

Aber neben der wissenschaftlichen Edition solcher Publikationen ist es notwendig, gerade die Aussage der Dokumente zu ergänzen, weil diese sehr häufig nicht den vollen Wahrheitsgehalt, namentlich in totalitären Systemen, widerspiegeln. Wer könnte etwa die gewundene und oft verklausulierte Sprache der Aufzeichnungen der konservativen Beamten des deutschen Auswärtigen Amtes verstehen, wüßte er nicht aus Erinnerungswerken und gelegentlich erschienenen Zeitschriftenaufsätzen um die innere Konfliktsituation dieser Männer, die „um eines höheren nationalen Ideals willen im Dienste verblieben“.

Es ist deshalb eine Forderung der zeitgeschichtlichen Forschung, eine Befragung der mithandelnden Personen einzuleiten, um einen richtigen Zugang zu den einzelnen historischen Vorgängen zu ermöglichen, wodurch die oft zeitpolitisch verfärbten Quellen ihre richtige Wertung erhalten können. Das Amsterdamer Institut ebenso wie das Münchner Institut für Zeitgeschichte haben durch umfangreiche Zeugenbefragungen vorbildliche Arbeiten geleistet und sind damit ähnlichen, in der amerikanischen Geschichtsforschung schon lange gebräuchlichen Verfahrensweisen gefolgt.

Damit kommen wir aber zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen, nämlich zur Frage, ob grundsätzlich jede sensationell aufgemachte Veröffentlichung in den so leicht der Vegessenheit anheimfallenden Presseerzeugnissen vom Historiker abzulehnen sind. Es wäre eine schwere Schuld und Unterlassung, hier ohne Prüfung ein pauschales Verdammungsurteil zu fällen. Häufig finden die wirklichen Zeugen der Geschehnisse, oder solche, die auch oft nur am Rande beteiligt waren, dank der Unkenntnis der Forschungseinrichtungen zur Zeitgeschichte kaum einen Kontakt zu diesen. Auch kann die Wissenschaft, rein materiell gesehen, weder Honorare noch eine großaufgemachte Publizität bieten. Deshalb landet so mancher Erlebnisbericht zunächst auf dem Schreibtisch der Illustrierten und Wochenzeitungen und wird dort selbst, je nach der Einstellung des Redaktionsteams, umgeformt, ausgewertet und gestaltet. Schwierig ist es dann für den Historiker, den Wahrheitsgehalt aus diesem Elaborat herauszufinden, aber die Erfahrungen haben doch gezeigt, daß mancher trübe Strom immer wieder Goldkörnchen der Wahrheit zutage förderte. Dazu kommt noch, daß solche Veröffentlichungen meistens eine zweite wichtige Quelle zur Zeitgeschichte benützen, nämlich das Bild. Ueber Bild und Film als historisches Dokument haben der österreichische Pionier der Bilddokumentation und Leiter des Bildarchivs der Nationalbibliothek, Dr. P a u e r, sowie der Sachbearbeiter des Instituts für wissenschaftlichen Film in Göttingen, Dr. T e r v e e n, grundsätzliche Untersuchungen veröffentlicht. Die Grenzen und Möglichkeiten der historischen Forschung aus den Film- und Photoaufnahmen werden noch lange nicht richtig erkannt, und die Einrichtung historischer Film- und Bildarchive ist eine Notwendigkeit, der sich etwa die britischen Historiker durch die Sammelarbeit des British Film Institute längst aufgeschlossen zeigten.

Somit kann aus den vielfältigen Anstrengungen der zeitgeschichtlichen Forschungsarbeit manche Lücke gewissermaßen auf Umwegen geschlossen werden, die sich nun einmal aus der ganzen Problemstellung der Archiwerschlep-pungen — nicht zu vergessen die leidigen Archivsperren in Oesterreich — ergibt. Eine bewußte Negation gegenüber der in der Tagespublizistik aufscheinenden Veröffentlichung wäre kaum vertretbar, um so mehr, als sich die Zeitgeschichte stärker als andere Abschnitte der historischen Forschung der Legendenbildung des Tages zu stellen hat, soll nicht einem neuen Mythos Raum gegeben werden.

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