6661268-1960_08_06.jpg
Digital In Arbeit

Zeitgeschichte, Zeitgeschichte?

Werbung
Werbung
Werbung

Von der richtigen Überlegung ausgehend, daß das Anschmieren von Hakenkreuzen nicht eine Sache des Bekenntnisses ist, sondern eine mehr oder weniger vollständige Unkenntnis über das Geschehen der Jahre 193 3 bis 1945 voraussetzt, ist in diesen Tagen wieder der Ruf nach besserer zeitgeschichtlicher Unterrichtung der deutschen Jugend laut geworden. Welche Probleme hier zu überwinden sind, zeigte eine von Oktober vorigen Jahres bis in den Jänner gehende Reihe der Wochenzeitschrift der „Spiegel“ über den Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933. Hier wurde die seither vertretene These, daß die Nationalsozialisten selbst an der Brandstiftung in dieser oder jener Form beteiligt gewesen wären dahingehend berichtigt, daß nunmehr der Holländer van der Lübbe als alleiniger Täter in Frage komme. Hier zeigt sich ein Problem, das in der Diskussion um zeitgeschichtliche Unterrichtung häufig übersehen wird: Kein anderes Gebiet der Geschichte ist einerseits derart durch die Ungeheuerlichkeit der Vorgänge belastet, während gleichzeitig auch kaum ein Gebiet so schwer wie dieses zu erforschen ist. Denn was sich an Akten in deutscher Hand befindet, sind mehr oder weniger zufällig in Deutschland verbliebene Reste, während der Großteil der Akten nach Amerika, England oder Rußland verfrachtet wurde. Was 1945 den Russen in die Hände fiel, ist heute zum allergrößten Teil wieder in Ostdeutschland. Allerdings sind diese Bestände für westdeutsche Historiker schwer zugänglich. Das nach dem Westen verfrachtete Material liegt aber heute noch in Amerika und England, ohne daß trotz vieler schöner Ankündigungen eine reelle Aussicht besteht, daß diese Bestände bald zurückkehren und in absehbarer Zeit der deutschen zeitgeschichtlichen Forschung zur Verfügung stehen werden. Das ist der Grund, weshalb sich bis heute nur wenige namhafte Historiker entschlossen haben, größere zusammenfassende Darstellungen über die NS-Zeit zu verfassen. Denn in der Tat kann, wie die Veröffentlichung des „Spiegels“ zeigte, eine sich nicht als stichhaltig erweisende Behauptung die peinliche Wirkung haben, daß alles, was an Ungeheuerlichkeit über diese Zeit enthüllt wurde, als ausgemachter Schwindel abgetan wird.

In dieser Richtung geht, wie der „Spieger-Bericht ebenfalls zeigte, eine nicht geringe Gefahr von jenen populären zeitgeschichtlichen Reportagen in den deutschen Illustrierten aus. Seit nämlich vor drei Jahren die Redakteure der „Münchner Illustrierten“ anläßlich ihrer (im übrigen guten) Serie über den Nürnberger Prozeß ihrer eigenen Verblüffung feststellten, daß dies beim Publikum interessiere, kamen auch die anderen Illustrierten auf diesen „Knüller“. Seither wird in Zeitgeschichte munter drauflosgeschrieben, was die Schreibmaschinen hergeben. Nun ist gewiß nicht alles erfunden, Und es werden in diesen Berichten durchaus seriöse Quellen verwendet, aber niemand weiß, wo dem Verfasser nun die Phantasie durchging und wo nicht. Hat doch vor einiger Zeit einer dieser Schriftsteller, um die Handlung aufzulockern, eine erfundene Geliebte Hitlers eingeführt und darob bei seiner Leserschaft begeisterten Beifall gefunden. Gab es doch eine Reihe von Lesern, die steif und fest behaupteten, die Dame gekannt zu haben! Diese Serienproduktion hat aber zu der nicht minder bedenklichen Begleiterscheinung geführt, daß Illustrierte zeitgeschichtliches Material aufkaufen. Auf diese Weise sind diese, von vielen gelesenen Berichte auf ihren historischen Gehalt kaum nachprüfbar, zumal Illustrierte meist sehr viel mehr Geld anlegen können, als irgendwelche staatlichen Institute.

Nun soll man die deutschen Illustrierten nicht schlechter machen als sie sind. Denn, so fragt man mit leichtem Schaudern, was wäre erst geschehen, wenn eine von ihnen auf den „Knüller“ verfallen wäre, Herrn Hitler als den größten Staatsmann, Feldherrn, Straßenbauer und was er sonst noch für;sich in Anspruch nahm, zu feiern. Dies mit aller Dankbarkeit zugegeben, bleibt nun, wo die Aktenlage zumindest in Ostdeutschland wesentlich besser geworden ist, aber doch die Gefahr, daß etwas, was über Illustriertenberichte in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen ist, eines Tages sich als falsch erweist. Solche Korrekturen lassen sich leicht anbringen. Gefährlich wird es erst, wenn nun daraus erneut eine Sensation gemacht wird, wie es der „Spiegel“ in d“er genannten Artikelserie tat. Denn in der ja sattsam bekannten „Spiegel“-Methode bekamen nicht nur die Illustriertenschreiber einiges ab, es wurden auch die Historiker zerzaust, die sich die These zu eigen gemacht hatten, die Nationalsozialisten seien an der Brandstiftung beteiligt. Der Triumph war billig und besonders gefährlich durch das Nachwort des Herausgebers, Herrn Augstein, kein Historiker sei aufgetaucht, der das vom „Spiegel“ in mehreren Jahren herbeigeschaffte Material widerlegt hätte. In der Diskussion um diese Frage wird die „Spiegel“-Sensation gewiß nicht das letzte Wort sein. Aber in das Bewußtsein der Öffentlichkeit ist durch die in diesem Sinn wirklich völlig verantwortungslose Art der „Spiegel“-Reportage ein ernster Zweifel an der LInvoreingenommenheit der zeitgeschichtlichen Forschung gedrungen. Neue Forschungsergebnisse if gehören zum Wesen der Wissenschaft. Man kann.es auch nur als ein Verdienst betrachte^, wenn die Geschichte um den Reichstagsbrand aufgeklärt wird. Nur muß das in einer Form geschehen, die nicht die ganze vorhergehende Forschung in Mißkredit bringt. Die „Spiegel“-Serie ist ein besonders arges Beispiel für die Gefahren, die der zeitgeschichtlichen Unterrichtung aus der Sensationslust der gehobenen Boulevardpresse erwächst. DuTch diese Sensationsmache des „Spiegels“ ist aber nun eine Situation eingetreten, aus der jeder machen kann, was er will. Wer aus durchsichtigen Gründen zeitgeschichtliche Forschung für verfrüht hält, findet sich ebenso bestätigt wie, wer die Anschuldigungen gegen Hitler als Verunglimpfung des verehrten Führers nimmt. Der die Wahrheit Suchende wird sich aber von dem Stil der Artikelserie so abgestoßen fühlen, daß auch die vielleicht wirklich erstrebte Klärung nicht herbeigeführt wurde. Die Möglichkeit, dieses Problem durch eine sachliche Diskussion zu klären, ist vertan.

Die Forderung nach der Bewältigung der Vergangenheit — eine der ernstesten, die es in Deutschland überhaupt gibt — ist keine Forderung nach Quantität, sondern nach Qualität. In diesem Sinn ist eine Nachricht aus Hannover ein echter Lichtblick. Im dortigen Scharnhorst-Gymnasium haben sich die Schüler entschieden, nicht ein Mahnmal für die Gefallenen dieser Schule zu errichten, sondern gebeten, das dafür zur Verfügung stehende Geld zur Anlegung einer guten zeitgeschichtlichen Handbibliothek zu verwenden. Dieses Beispiel sollte Schule machen. Denn man muß sich darüber im klaren sein, daß in Deutschland nicht alle Voraussetzungen für ein Wiederaufflackern nazistischen Ungeistes beseitigt sind. Man muß sich darüber im klaren sein, daß eine noch so gutgemeinte allzu populäre und mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmende Betrachtung der Zeitgeschichte eines Tages eine böse Gefahr werden kann. Es bedarf, wenn einmal der so gerne geglaubte Verdacht aufkommt, daß mit den Berichten über die nationalsozialistische Zeit etwas nicht stimmt, keiner großen journalistischen Begabung mehr, um durch geschicktes Aneinanderreihen unwahrer Behauptungen in irgendwelchen Berichten zu „beweisen“, daß das ganze nichts anderes als eine große Hetze gegen Deutschland ist. In unserer heutigen Situation ist es kein Zeichen erwachenden nationalsozialistischen Geistes, wenn in Deutschland so viele so wenig über diese Zeit wissen. Gerade deshalb aber ist die unverantwortliche Darstellung — und in diesem Sinn ist jede Sensationsmacherei unverantwortlich — eine nicht zu überschätzende Gefahr, auf die einmal hingewiesen werden muß, wenn die Diskussion um die Frage geht, weshalb in Deutschland die Kenntnisse um die Vorgänge der nationalsozialistischen Epoche so gering sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung