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Im ersten Stock und zu ebener Erde

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Wer heute die großen deutschen Blätter, wie die „Frankfurter Allgemeine“ (Frankfurt), „Die Welt“ (Hamburg) oder die „Süddeutsche Zeitung“ (München) und einige andere, liest und wüßte nicht, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geschah, der käme kaum auf den Gedanken, daß dieses Land erst seit 11 Jahren im Besitz einer freiheitlichen Demokratie ist. Es nimmt sich alles so aus, als wäre es nie anders gewesen. Das ist einerseits ein Zeichen, daß eine bestimmte Schicht demokratischer war, als man den Deutschen gemeinhin zugetraut hätte, anderseits muß aber doch betont werden, daß zwischen dem Denken dieser Schicht und dem einer breiteren Bevölkerung Unterschiede, bestehen, die eine Identifizierung von Presse und öffentlicher Meinung in Deutschland nicht unbedingt gestatten. Dafür gibt es mehrere Erklärungen.

In Deutschland selbst hört man manchmal, die große Presse sei einfach in den falschen Händen. Dieser Fehler rühre von dem Lizenzierungswesen der Besatzungsmächte her. Diese Behauptung ist meist absprechend gedacht, und da Diffamierungen gängige Schlagworte lieben, so haben jene“ das Wort „Lizenzpresse“ erfunden. Herr Schlamm zum Beispiel widmet dieser Spezies einen Abschnitt seines unerfreulichen Buches über die Bundesrepublik. In Wahrheit mögen daran viele Gründe schuld sein. Da ist es einmal die Ablehnung, auf die die Presse in Deutschland schon immer stieß, die im Leutnantsjargon so gern „Journaille“ genannt wurde, und nicht zuletzt die Tatsache, daß man in Deutschland zwölf Jahre lang die Wahrheit bestenfalls zwischen den Zeilen erfahren konnte. Daß den Zeitungen heute weniger geglaubt wird als früher und ihre Einflußmöglichkeiten beschränkter sind, ist auch eine späte Rache des „Völkischen Beobachters“ an der freien Presse.

Im Gegensatz zur Zeit der Weimarer Republik ist die heutige deutsche Presse großteils nicht mehr partei- oder richtunggebunden. Die größere Anzahl der Zeitungen bemüht sich um Unabhängigkeit. Der Journalismus hat damit eine ganz andere Funktion erhalten, die am augenfälligsten „Der Spiegel“ erfüllt. Sie vertritt nicht mehr einen parteipolitisch ausgerichteten Standpunkt, sondern ist sozusagen Sittenpolizei im Staate. Man kann dem Stil und der Geisteshaltung des „Spiegels“ kritisch gegenüberstehen und sagen, was man will: Gewiß ist, daß er schon viele Bestechungsaffären verhindert hat. Die Gegner dieser Presse werfen ihr nun gerade das vor. Sie meinen, die Presse sei „national würdelos“, oft wird auch ihre, wie manche glauben, „allzu demokratische“ Haltung übelgenommen. Dieses 3eaufsichtigen des öffentlichen Lebens durch die Presse hat sicher den einen Nachteil, daß die Allgemeinheit, die oft diese Funktion der Presse nicht erkennt, den Eindruck eines korrupten Staates erhält, wo es sich, genau genommen, um die Sauberkeit im Staate handelt. Der großen Presse wird auch nicht selten vorgeworfen, sie wühle gar zu gern in den Schandtaten der Vergangenheit. In der breiten Bevölkerung ist eine im Ausland kaum bekannte Presse beliebter. Das sind Blätter mittlerer Großstädte, die oft fast an die Auflagenzahlen der großen Blätter heranreichen. In ihnen geht es beileibe nicht antidemokratisch zu, aber die nationalen Erfolge werden gebührend gefeiert und von der Vergangenheit wird meist sehr viel weniger gesprochen, die Prozesse gegen nationalsozialistische Verbrecher meist nur wenig kommentiert. Man muß sich trotzdem hüten, hier die Presse der deutschen „Nazis“ zu wittern. Die Einteilung in „Nazis“ und „Antinazis“ ist in Deutschland überholt Wer sich heute über den „Spiegel“, die „Süddeutsche Zeitung“ oder die „Frankfurter Allgemeine“ wegen ihrer „national würdelosen Haltung“ ärgert, kann vielleicht einmal braun ..gewesen sein. Für die Gegenwart wäre so ein Schluß aber falsch. Denn heute ist man in Deutschland entweder Adenauer-Anhänger oder dessen Gegner. Für viele allerdings ist heute Adenauer — was mit Adenauer selbst gar nichts zu tun hat und auch mit dem eigentlichen Charakter Hitlers fast nichts — ein Hitler-Ersatz geworden: das heißt ein Mann, der weiß, was er will, und das auch tut, der einem das leidige Geschäft mit der Politik abnimmt und obendrein noch ein Leben in Wohlstand verschafft. Deshalb sind die meisten dieser kleineren Blätter ausgesprochen adenauerfreundlich oder national, je nachdem, von welcher Seite man die Sache ansieht.

Wenn man von diesen kleinen und mittelgroßen Zeitungen, soweit sie nicht der SPD nahestehen, fast durchweg sagen kann, daß sie für Adenauer sind, so haben die großen, vom „Rheinischen Merkur“ und oft auch von der „Frankfurter Allgemeinen“ abgesehen, dem Bundeskanzler gegenüber eine kritische Einstellung. Das wird im Ausland oft nicht verstanden, ist aber wahrscheinlich eine ganz natürliche Reaktion auf die schon angedeutete Tatsache, daß viele, die heute zu Adenauer ja sagen, es früher zu Hitler taten oder getan hätten, ohne deswegen nun in allen Fallen wirkliche Nationalsozialisten gewesen zu sein. Hier zeigt sich die Beschränkung der Beeinflussungsmöglichkeiten der großen Blätter auf die öffentliche Meinung, denn zwischen der Haltung der großen Blätter und den Adenauerschen Wahlerfolgen klafft eine sonst kaum erklärbare Lücke. In den Redaktionen der großen Blätter sitzt eine Elite, der der Schrecken vor dem Nationalsozialismus noch in den Knochen sitzt. Solche Leute sind natürlich auch bei den genannten kleineren Blättern zu finden. Nur ist es ein Unterschied, ob ich meine Meinung bei einem Abonnentenstamm von 80.000 Lesern oder einem solchen von 200.000 oder 300.000 Lesern vertrete. Natürlich sind auch hier nicht nur weiße Raben, wie das Beispiel des Chefredakteurs der protestantischen Wochenschrift „Christ und Welt“, Giselher Wirsing, beweist, der eine problemreiche Vergangenheit hatte.

Nun scheinen sich gerade in den repräsentativen deutschen Zeitungen Veränderungen anzubahnen. Seit Hans Zehrer zusammen mit dem historischen Schriftsteller Walter Görlitz die „Welt“ mehr auf den deutschnationalen Ton umgestellt haben, den Zehrer bereits vor 1933 im „Tatkivis“ gut beherrschte, sind namhafte ständige Mitarbeiter, wie Paul Sethe zu Augstein, der Herausgeber des „Spiegels“, übergewechselt. Augstein, der neben dem „Spiegel“ noch die „Konstanze“ hat, plant eine Wochenzeitung, die aber wohl bald eine Tageszeitung werden dürfte. Da die „Frankfurter Allgemeine“ in den letzten Jahraen wegen ihrer allzu großen Regierungstreue viele intellektuelle Abonnenten im norddeutschen Raum an die „Welt“ verlor, die nun durch Zehrers Schwenkung zum Teil heimatlos geworden sein dürften, ist es nicht ausgeschlossen, daß das Augsteinsche Experiment gelingt. Hieran ließe sich nun wirklich der Gang der öffentlichen Meinung in Norddeutschland ablesen, das durch das Fehlen repräsentativer Blätter in West-Berlin zeitungsmäßig schlecht versorgt ist. Es gehört ja zu den Eigentümlichkeiten unseres politischen Lebens, daß es Bonn bis heute noch nicht zu einem repräsentativen Regierungsblatt gebracht hat, ja daß bisher nicht einmal Versuche unternommen wurden, eine solche Zeitung zu gründen.

Die Redaktionen der großen deutschen Zeitungen wissen, was geschehen ist, und sie wissen auch, daß die Gefahr in Deutschland immer besteht, daß zwar nicht der Nationalsozialismus im Braunhemd, wohl aber etwas Vergleichbares, Antidemokratisches entstehen kann.... Deswegen, und weil sie wohl auch wissen, wie schwer es ist, dem Volke etwas ihm Unangenehmes zu sagen, hauen sie mitunter etwas zu kräftig auf die Pauke. Das gilt auch für Rundfunk und Fernsehen. Hierfür war die Reaktion auf die antisemitischen Vorfälle an der Jahreswende ein gutes Beispiel. Hier trieben nämlich Radio, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften des Guten offenbar zuviel, so daß durch diese Übernervosität in der wirklichen öffentlichen Meinung fast das Gegenteil erreicht wurde.

Gerade hier zeigte sich, wie schwer die öffentliche Meinung in Westdeutschland zu fassen ist. Denn mitunter verstecken sich unter den übereifrigen Anti-Antisemiten alte Nazis, wohl besser gesagt, alte Opportunisten, die mit demselben Eifer, mit dem sie einst den Winken ihres Meisters Goebbels gefolgt sind, heute das vertreten, was gerade „richtig liegt“.

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