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Innerer Krieg

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Während auf dem Kongreß der sozialistischen Internationale in London beantragt wurde, daß alle sozialistischen Regierungen die diplomatischen Beziehungen zu der chilenischen Militärregierung abbrechen sollten, forderten die Aktivisten der MIR („Movimiento de la Izquierda Revolucionaria de Chile“ — „Chilenische Linksrevolutionäre Bewegung“) auf der Tagung, die europäische Linksparteien über die chilenische Situation in Paris abhielten, daß stich eine Einheitsfront der chilenischen Linken zuerst für die „bewaffnete Propaganda“ und dann für den „offenen Kampf in Stadt und Land“ bilden solle.

Das Hauptargument für die diplomatische Diskriminierung des Regimes ist die Behauptung, daß dort die Menschenrechte systematisch mißachtet würden. Wie berechtigt diese Behauptung ist, zeigt sich in einem „vertraulichen Brief“, den der Präsident der (stillgelegten) chrisidemo-kratischen Partei, Patricio Aylwin, ungeachtet persönlicher und politischer Gefahren an die Regierung gerichtet hat, in dem er ihr „schwere Verletzungen der Menschenrechte“, „besonders moralischen und physischen Druck auf die Verhafteten“, „Verhaftungen, Bedrohungen und Entlassungen ohne andere Begründung als abweichende ideologische Meinung“ vorwarf.

Die chilenische Bischofskonferenz hat im April eine Erklärung erlassen, in der „die Rückkehr zum Rechtsstaat“ verlangt wird. „Wir sind vor allem über das Klima der Unsicherheit und Angst in Sorge, dessen Ursache wir in der Fülle von Denunziationen, falschen Gerüchten ... und der fehlenden Information zu finden glauben. Wir sind weiter über die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftssituation beunruhigt, zu denen man... die willkürlichen oder ideologisch begründeten Entlassungen zählen muß.“ „Uns macht weiter betroffen ... das Fehlen juristischer Sicherheit, das sich in willkürlichen oder übermäßig langen Verhaftungen äußert, bei denen die Betroffenen und ihre Familien nicht einmal die Anklagepunkte kennen, Verhöre mit physischen oder moralischen Druckmitteln, unzureichende Möglichkeit für die Verteidigung, verschieden hohe Strafen für die gleichen Tatbestände.“

Die Regierung pflegt solche Anklagen als Greuelmärchen abzutun. Zuweilen muß sie sie aber selbst bestätigen. So erklärte der chilenische Innenminister, General Oscar Bo-nilla, Ende Juni der Presse, der Präsident des früheren „Partido Radical“ (sozialdemokratischer Tendenz), Anselmo Sule, werde nunmehr in Freiheit gesetzt, weil keine Belastungsmomente gegen ihn vorlägen. Er war seit dem Umsturz auf der Insel Dawson mit anderen 32 Politikern interniert und mit diesen zur Durchführung des Verfahrens vor dem Militärgericht nach Santiago gebracht worden.

Es wirkt grotesk, wenn die Regierung die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit als „Ausfluß marxistischen Denkens“ bezeichnet, als ob sie nicht, gerade umgekehrt, zu den Grundforderungen des liberalen Bürgertums gehörte. Der chilenische Präsident, General Augusto Pinochet, bestreitet die Vorwürfe und hat die Juristenkommission der „Organisation Amerikanischer Staaten“ (OAS), die unter Leitung des konservativen uruguayischen Universitätsprofessors Dr. Jimenez de Arechaga steht, aber von den Weisungen der Regierungen unabhängig ist, ermächtigt, an Ort und Stelle die Situation zu untersuchen.

Die Juristen wenden weiter ein, daß die MiUtärgerichte übertriebene Urteile gegen Mitglieder der MIR

Chilenischer Junta-Chef Pinochet: „Greuelmärchen“ aus der Bischofskonferenz? und der Sozialdemokratischen Partei verhängten, wobei die Militärgerichte den Kriegszustand in die Zeit vor dem Tode Allendes zurückverlegen und den Angeklagten vorwerfen, damals Waffen besessen zu haben, um die Macht an sich zu reißen.

Der internationale Entrüstungs-sturm hat die Regierung gezwungen, jenen, die das Glück hatten, in Botschaften Asyl zu finden, Geleitbriefe auszustellen. Man darf auch annehmen, daß mindestens die formellen Bedingungen der angefochtenen Militärjustiz nunmehr verbessert werden. Im übrigen drängt sich die Frage auf, warum die Weltöffentlichkeit dem Problem der politischen Gefangenen in Chile solche Aufmerksamkeit schenkt, während sie das gleiche Phänomen in Kuba oder der Sowjetunion beiseite läßt.

Pinochet antwortet auf die vielfachen Forderungen nach einer Lockerung der Repression, einer Vermenschlichung seiner Methoden und einer langsamen Rückkehr zu normalen Verhältnissen, daß sich das Land in einer „Situation des inneren Krieges“ befinde.

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