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Tsdiekistendämmerung

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Die Reise des Chefs der sowjetischen Geheimpolizei, General Iwan S j e r o w. nach London hat zwar.viel Staub aufgewirbelt, die eigentliche Sensation aber ist der Weltöffentlichkeit entgangen. Es war nämlich das erste Mal in der Geschichte, daß der Chef der roten Geheimpolizei sich ganz offiziell ins Ausland begab und mit ausländischen Kollegen Kontakt nahm. Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre so etwas noch ganz undenkbar gewesen, so sehr widerspricht es aller Tradition der sowjetischen Tschekisten-Kaste. Schon das zeigt die auf jeden Fall beachtenswerte Veränderung, die in tier Sowjetunion stattgefunden hat. Die Reform der Geheimpolizei ist wohl auch das Wichtigste, was dort jetzt vorgeht. Denn nur eine tiefe,Reform dieser. Terrorinstitution kann den Weg zu einer .neuen freiheitlichen Entwicklung Rußlands öffnen. Daher sind Polizei und Justiz gerade jene Gebiete des russischen Lebens, welche die Weltöffentlichkeit besonders, aufmerksam beob-: achten sollte..

Die politische Geheimpolizei, als „außerordentliche“ Kommission gegründet, war bisher der Kern des ganzen Regimes. Ihr unterstanden nicht nur auch die ordentliche Polizei und die Kriminalpolizei, sondern auch die Feuerwehr und die Standesämter. Sie besaß ein ausgedehntes System von Wirtschaftsunternehmen:. Geschäfte, Fabriken, landwirtschaftliche Güter. Vor allen Dingen waren ihr ganze riesige Gebiete und eine Millionenarmee von Zwangsarbeitern unterstellt. Eine eigene militärische Macht war ihr zugeteilt; auch die Grenzschutztruppen. Das Strafgesetzbuch und die Prozeßordnung waren für sie nicht gültig. Die Geheimpolizei war Herr über Leben und Tod jedes einzelnen Sowjetbürgers. Stalin versuchte ein paarmal, die Kontrolle dieses riesigen Staates im Staate an sich zu bringen. Zwei Chefs dieser Geheimpolizei wurden hingerichtet. Doch es gelang ihm nicht. Denn Stalin wollte ja gar nicht den einzelnen Sowjetbürger schützen, sondern vor allem sich und sein Regime.

Bis nach dem Tode Stalins auch Beria, der dritte Chef des Geheimdienstes, der dieses Schicksal erlitt, von Henkershand starb. Beria, selbst Mitglied des Politbüros, wußte, daß eine neue Periode der sowjetischen Staatlichkeit eingeleitet werden sollte. Die revolutionäre Epoche und auch der Weltkrieg waren vorbei. Der Sowjetstaat soll nun von allen revolutionären Ueberbleibseln gereihigt werden. Es sollte zwar das Monopol und die ' Diktatur einer einzigen Partei bestehen bleiben; doch die Sowjetunion , soll zum Rechtsstaat werden, deren staatlicher Fassade'die Diktatuf nicht mehr artzusehen wäre. Dazu gehörten vor allen 'Dingen eine krasse Einschränkung der politischen“ Polizei und der Ausbau und die Stabilisierung eines ordentlichen Gerichtssystems. Um eine solche Degradierung und Entmachtung der Kaste der Tsche-kisten zu verhindern, zettelte Beria seine Polizistenverschwörung an. Diese Verschwörung beschleunigte nur die schon vorher beschlossener; Reformen. Sie gab den Vorwand, den Kern der Kaste der Tschekisten zu vernichten. Die früher abgeleugneten Verbrechen und brutalen Methoden der Geheimpolizei wurden jetzt öffentlich zugegeben. Bezeichnend ist, daß in der Provinz eine ganze Reihe von Funktionären der Geheimpolizei im öffentlichen Gerichtsverfahren abgeurteilt wurden, nicht etwa, weil sie an der Verschwörung Berias beteiligt waren, sondern weil sie sich des Amtsmißbrauches und der Ueberschreitung ihrer Befugnisse schuldig gemacht hatten. Das Ziel aller dieser Propa ganda und der vielen Prozesse ist, offensichtlich dem durchschnittlichen Bürger die Angst vor der Geheimpolizei zu nehmen und ihn gleichzeitig aufzumuntern, seine Rechte auch dieser Organisation gegenüber zu verteidigen. Denn schon Lenin hatte es als ein Krebsübel bezeichnet, daß der Russe nicht gewohnt ist, seine persönlichen Rechte dem Staate gegenüber energisch zu verteidigen.

Gleichzeitig begann die große Polizei- und Justizreförm. Der Geheimdienst wurde vom Innenministerium getrennt. Doch es entstand nicht wie früher ein eigenes Ministerium der Staatssicherheit. Nur' ein „Komitee für, Staatssicherheit“ beim Ministerrat. Das ist etwas ganz anderes als ein Ministerium. Der Chef dieses Amtes nimmt also an den Sitzungen des Ministerrates nur als Referent in Sachfragen und nicht mit beschließender Stimme teil. Mitglied des Parteipräsidiums ist er schon gar nicht. Er untersteht direkt dem Ministerpräsidenten und seinen Stellvertretern. Also nicht mehr wie unter Stalin, dem Parteisekretär. Der Chef dieses Amtes ist auch nur Vorsitzender eines Komitees. In diesem leitenden Komitee sitzen aber Vertrauensleute der Partei und der Regierung, die nicht lur Kaste der Tschekisten gehören. Der Apparat dieses Staatssicherheitsamtes ist noch immer sehr groß. Doch; um Verhaftungen durchzuführen, muß sich dieses Amt an das Innenministerium wenden, dem die uniformierte ordentliche Polizei untersteht. Es erfolgt also durch ein anderes Amt eine Kontrolle der Geheimpolizei. Finden nämlich die Organe des Innenministeriums, daß eine Anordnung des' Sicherheitsamtes ungesetzlich ist, so avisieren sie das der Staatsanwaltschaft. Ein besonderer Staatsanwalt, der dem General-Staatsanwalt direkt untersteht, kontrolliert wieder seinerseits das Gebaren der Geheimpolizei. Zahllose Wirtschaftsunternehmen, ebenso wie die Verwaltung ' der Zwangsarbeitslager und Her Gefängnisse, sind jetzt der Geheimpolizei weggenommen worden. Der Geheimpolizei wurde auch jede Gerichtshoheit entzogen. Mehr als 3 5 Jahre läng urteilte die Geheimpolizei selbst über ihre Häftlinge. Jetzt sollen die ordentlichen Gerichte über jeden Fall entscheiden. Vor allem sollen von jetzt ab politische Delikte ausschließlich in. oidentlichen Gerichtsverfahren abgeurteilt wer-, den. Es bleibt jedoch vorläufig unbekannt, ob die Behörde, wie bisher, jeden Bürger bis zu. drei Jahren administrativ in ein Zwangsarbeitslager einweisen kann, nur weil er „sozial schädlich oder gefährlich“ werden könnte. Die Geheimpolizei handelt jetzt auch nicht mehr nach einem eigenen, geheimen Reglement, sondern ist an die Prozeßordnung gebunden. Allerdings gilt noch die alte Prozeßordnung, nach welcher der. Verteidigung so gut wie gar keine Rechte zustehen.

Aufgehoben sind auch alle Gesetze : üfcer Sondergerichte. Es gibt jetzt also nur die ordentlichen Gerichte. Die absolute Oeffentlichkeit der Gerichte und ihre Unabhängigkeit von der -Partei ist jedoch auch jetzt noch nicht gewährleistet. Doch besser als das Geheimverfahren der Polizei sind sie auf jeden Fall. Das Gerichtswesen wird ebenfalls reformiert. Durch die Abschaffung des Justizministeriums der Sowjetunion wird das Justizwesen dezentralisiert, wieder den einzelnen Republiken unterstellt und damit die Unabhängigkeit der Gerichte etwas gestärkt. -

Die Justizreform ist noch nicht abgeschlossen. Man hat die Theorien des ehemaligen Generalstaatsanwaltes Stalins, des späteren Außenmini-' sters Wyschinski, verworfen. Wyschinski stellte die Theorie auf, daß die Sicherheit des Staates' und des Regimes allen andern Erwägungen vorangeht. Ein Angeklagter kann nach ihm schon dann verurteilt werden, wenn es glaubhaft erscheint, daß er die ihm angelasteten Handlungen begehen könnte. Heute soll die „Schuld“ des Artgeklagten im Verfahren einwandfrei und' exakt nachgewiesen werden. Damit ist aber' auch die Grenze der neuen Reformen aufgezeigt. Der Sowjetbürger erhält eigentlich keinerlei neuen Rechte. Die Freiheit wird nicht vergrößert. Was bisher als strafbar galt, bleibt es auch fernerhin. Die Diktatur bleibt also be- . stehen. Was mit den Reformen bezweckt werden . soll, ist die Bekämpfung der Willkür, der Verbrechen durch Amtspersonen, die schließlich das Regime schädigen und gefährden und das Leben in der Sowjetunion oft lähmen. Die Rechtssicherheit wird also gefestigt, das Wesen des Sowjetstaates jedoch nicht verändert. Augen-, blicklich ist übrigens in der Sowjetunion die, Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzbuches im Gange. Erst wenn diese Strafreform auch vollendet sein wird, kann man ein endgültiges Urteil fällen. Es ist natürlich auch dann noch ein weiter Weg bis zu einer wirklichen Rechtssicherheit. Der Willkür steht noch manche Tür offen. Die Verteidigung ist immer noch praktisch rechtlos Sehr viele Verfahren werden unter Ausschluß der Oeffentlichkeit durchgeführt. L!nd was nützt schon viel die Oeffentlichkeit, wenn sie nicht durch die Freiheit der Presse gewährleistet wird? Eine Freiheit der Presse ist aber nur dort möglich, wo es mehrere Parteien, also eine legale politische Opposition gibt. Jede Rechtssicherheit hat also in einem Einparteienstaat ihre Grenze an den Interessen des Regimes.

Die letzten Hinrichtungen in Baku, wo alle sechs Delinquenten alte Angehörige der Tschekisten-Kaste waren, der Hauptangeklagte Bagi-row sogar „Ehrentschekist“, beweist eindeutig, daß die heutigen Machthaber im Kreml diese Tschekisten-Kaste endgültig vernichten wollen. Ob auf die Dauer die Kaste der Tschekisten, deren Reste noch geblieben sind, nicht doch wieder sich ihre Allmacht erobert, das ist eine andere Frage. Bisher sind alle Versuche, diese Allmacht einzudämmen, gescheitert. In einem geeigneten Augenblick erfand die Geheimpolizei eine gefährliche Verschwörung, organisierte selbst ein Attentat auf die Regierungsmitglieder oder provozierte selbst irgendwo eine Revolte. Diese Geheimpolizei zeigte immer wieder, und nicht nur seit der bolschewistischen Revolution, daß das Leben der Regierenden in Rußland von ihr abhängt. So war es auch, als bereits 1918 Lenin die Vollmachten der Tscheka einschränken wollte. Im Dezember 1918 wurde er auf einer Fahrt überfallen, seines Autos und seines Pelzes beraubt. Jeder in Moskau wußte, wer die Organisatoren dieses Ueberfalles waren, auch Lenin. Von einer Einschränkung der Macht der Tscheka war nicht mehr die Rede.

Die gegenwärtigen Reformen gehen allerdings viel weiter als alle derartigen Versuche in der Vergangenheit. Das Regime ist heute politisch daran interessiert, dem Sowjetstaat ein neues Gesicht zu geben.

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