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So etwas wie ein Weltgewissen

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Es gibt auf der Welt etwa eine Viertelmillion Häftlinge, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen gefangengehalten werden. Sie haben keine Gewalt ausgeübt, noch haben sie diese befürwortet. Ihr Verbrechen besteht darin, sich zu einer politischen oder religiösen Überzeugung öffentlich zu bekennen. Dafür werden sie in Gefängnisse, Arbeitslager und Irrenanstalten gesteckt, deren Zustände häufig katastrophal sind, sie werden gefoltert, körperlich und geistig mißhandelt und der letzten menschlichen Würde beraubt. Und trotzdem gibt es bis heute keine internationale Behörde mit der erfoderlichen Vollmacht, Beschwerden über Verletzungen der Menschenrechte nachzuprüfen.

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Es gibt auf der Welt etwa eine Viertelmillion Häftlinge, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen gefangengehalten werden. Sie haben keine Gewalt ausgeübt, noch haben sie diese befürwortet. Ihr Verbrechen besteht darin, sich zu einer politischen oder religiösen Überzeugung öffentlich zu bekennen. Dafür werden sie in Gefängnisse, Arbeitslager und Irrenanstalten gesteckt, deren Zustände häufig katastrophal sind, sie werden gefoltert, körperlich und geistig mißhandelt und der letzten menschlichen Würde beraubt. Und trotzdem gibt es bis heute keine internationale Behörde mit der erfoderlichen Vollmacht, Beschwerden über Verletzungen der Menschenrechte nachzuprüfen.

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Aus diesem Grund entschloß sich 1961 der Londoner Rechtsanwalt Peter Benenson zur Eigeninitiative. Er veröffentlichte in der Londoner Sonntagszeitung „The Observer“ einen Artikel mit der Überschrift „Die vergessenen Gefangenen — ein Appell für Amnestie“, in dem er sich gegen die Rassendiskriminierung und die Verfolgung Andersgläubiger und Andersdenkender einsetzte. Der Bericht fand ein überraschendes Echo und wurde in Hunderten von

Zeitungen der englischsprachigen Welt nachgedruckt. Peter Benenson errichtete kurz darauf ein provisorisches Büro in London und wurde damit zum Gründer von Amnesty, und später, nachdem sich in mehreren Ländern Gruppen zu bilden begannen, von Amnesty International.

Die Organisation beruft sich auf die geltenden Menschenrechtskonventionen: die Haager Convention von 1899 bis 1907, das Genfer Protokoll von 1925 und die Haager Konvention von 1948, wo es unter anderem heißt:

• Kein Mensch soll der Folterung sowie grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung unterworfen werden.

• Kein Mensch soll willkürlicher Gefangennahme, Inhaftierung oder Ausweisung unterworfen werden.

• Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit …

Soweit die Formulierungen. Wie die Praxis beschaffen ist, zeigen einige „Fälle“, die zur Zeit von Amnesty betreut werden:

José Alves Tavares Magro, Portugal

Büroangestellter und Mitglied der verbotenen kommunistischen Partei. Seit 1945 vor der Polizei auf der Flucht. 1951 zu zwei Jahren Gefängnis und zusätzlicher Sicherheitsverwahrung verurteilt, jedoch erst 1957 entlassen. Bald danach Verhaftung seiner Frau. 1959 neuerliche Verurteilung von Jose Magro, diesmal zu zehn Jahren und Sicherheitsverwah- ruhg. Er kommt ins Caxias-Gefäng- nis, wo er 1961 an einem Ausbruch teilnimmt. 1962 wird er wieder gefangen genommen und zu zehn Jahren mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. 1966 erhielt er eine Extrastrafe von 5 Jahren.

Dieser Mann wird allein wegen seiner Arbeit für die kommunistische Partei gefangengehalten, die in Portugal ein gewaltloses Programm vertritt. Im Dezember 1970 unterzeichneten 5000 Personen in Portugal ein Bittgesuch für seine Entlassung. Über das Ergebnis ist bis jetzt nichts be kannt. Er hat insgesamt 17 Jahre im Gefängnis verbracht, mindestens neun Jahre liegen noch vor ihm. Sein Gesundheitszustand ist nicht gut, er leidet an einem Darmgeschwür. Sollte er die nächsten Jahre überleben, so ist er fast 60 Jahre, wenn er das Gefängnis verlassen darf.

Eleni Voulgari, Griechenland

Als sie 19 Jahre alt war, kam ihr Schwager Nikos Genas heimlich aus dem polnischen Exil zu ihrer Familie in die thessalinische Kleinstadt zurück. Nikos hatte im griechischen Bürgerkrieg gekämpft, und mußte nach deren Niederlage nach Polen auswandern. Man entdeckt ihn, und er wird zusammen mit der gesamten Familie verhaftet. Nur Eleni entgeht der Verhaftung, weil sie zufällig nicht zu Hause ist. Ihre Familie und ihr Schwager werden 1954 nach dem Gesetz Nr. 375 wegen Spionage zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl weder Nikos Genas noch seiner Familie, die ihn lediglich aufgenommen hat, Spionage nachgewiesen werden kann. Eleni Voulgari geht nach Athen, wo sie bis 1966 als Näherin arbeitet. Bei ihren Besuchen im Gefängnis lernt sie Charalambos Golemas, den Zellennachbarn ihres Schwagers kennen. Im Februar 1966 beschließt das griechische Parlament eine Amnestie für alle, die auf Grund des Gesetzes 375 gefangen gehalten werden. Die Familie wird entlassen, Eleni verlobt sich mit Golemas und lebt einige Monate mit ihm zusammen. Im November 1966, als das Aufgebot schon bestellt ist, wird die schwangere Eleni plötzlich verhaftet, weil die Polizei bemerkte, daß man sie 1954 vergessen hat. Weil die Amnestie von 1966 nur für diejenigen gilt, die zur Zeit der Amnestie inhaftiert waren, wird sie wegen Spionage zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Auf die Bemühungen ihres Anwalts, Giorgios Nikolaidis, wird sie im April 1967 vom griechischen König begnadigt. Der Entlassungstermin ist der 25. April. Am 21. April putscht das Militär, und der Gnadenerlaß wird rückgängig gemacht. Sie kommt zusammen mit ihrem zwei Monate alten Sohn in Einzelhaft. Das Baby bleibt bis zum August 1969 bei Eleni, und wird dann ihrer betagten Mutter zur Pflege übergeben. Über Elenis Schicksal wurde ein Film gedreht, ihr Bild ging um die Welt. Eleni Voulgari ist jetzt 35 Jahre alt. Aber man scheint sie vergessen zu haben.

Valery Lukanin, UdSSR

Er ist 23 Jahre alt. Im Frühjahr 1969 hängt er ein Plakat in sein Fenster, auf dem gegen den Einmarsch russischer Truppen in der Tschechoslowakei protestiert wird. Er wird aufgegriffen, ohne Angabe von Gründen in eine psychiatrische Klinik geschafft und dort für geistig unzurechnungsfähig erklärt. Die Diagnose lautet auf „ernste Form von Schizophrenie“. Angeklagt ist er außerdem der antisowjetischen Agitation. Die Untersuchungen seines Falls werden vor ihm geheim gehalten. Seiner Mutter wurde gedroht, daß sie ihren Sohn nicht mehr besuchen darf, falls sie ihm etwas davon berichtet. Valery Lukanin befindet sich in der Psychiatrischen Klinik Kazan.

Gegenwärtig nehmen sich fast 1000 Amnesty Gruppen mit mehr als 10.000 Mitgliedern in 28 Ländern solcher und ähnlicher Fälle (insgesamt sind es 2500) an. Fast jeden Monat werden Beauftragte in die verschiedenen Länder geschickt, um dort Informationen zu sammeln, als Beobachter an Prozessen teilzunehmen und mit Regierungen über die Freilassung von Häftlingen zu sprechen. Das Ergebnis dieser intensiven, sehr oft unter persönlichen Opfern geleisteten Bemühungen: 2500 Entlassungen seit Bestehen der Organisation im Jahre 1961, ein bißchen Hilfe für die Familie, ein bißchen Trost für den Gefangenen: Du bist nicht ganz allein… es gibt irgendwo so etwas wie ein Weltgewissen! Ein Tropfen auf dem heißen Stein, sicher. Aber gerade darum so wichtig.

Chronischer Geldmangel ist eine der Schwierigkeiten, mit denen

Amnesty zu kämpfen hat. Eine weitere stellt sich bei den Versuchen, in totalitären Staaten und Diktaturen Erfolge zu erzielen. Hier führten die Bemühungen der Organisation sogar häufig dazu, das Los der Gefangenen oder ihrer Familien zu verschlechtern.

Einem ihrer wichtigsten Grundsätze, nämlich Überparteilichkeit zu wahren, ist Amnesty International bis jetzt treu geblieben, indem es einzig humanitäre Ziele verfolgt und somit nur Gefangene berücksichtigt, dif Gewalt weder .befürworten noch angewandt haben. Forderungen nach dem Motto, daß der Zweck die Mittel heilige, auch Gewalttäter zu Amnesty-Schützlingen zu erklären, haben sich bis jetzt noch nicht durchgesetzt. Wäre dies der Fall, so würde die Welt zwar um ein politisches Programm reicher, aber um ein humanitäres Anliegen ärmer werden.

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