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Arglos über die Grenze

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Was löst diese Betrachtung aus? Da ist kürzlich in den USA ein Buch erschienen, das die Erinnerung an eine der peinlichsten Episoden des Zusammenpralls zweier Welten weckt, an den schon vergessenen Fall Newcomb Mott. Vor drei Jahren wanderte er als harmloser amerikanischer Tourist aus der Nordspitze Norwegens in das russische Dorf Boris Glebb, um ein paar Andenken zu kaufen und um erzählen zu können, seinen Fuß in einen Winkel dieses seltsamen Landes gesetzt zu haben, weil es als der einzige Platz gilt, wo man dies Land ohne das sonst so mühsam zu erlangende Visum betreten könne. Daß dies Privileg nur für Norweger gilt, war wohl als bestrittenes Gerücht erwähnt worden, aber warum sollte er nicht den Vormittag, ehe sein Flugzeug ihn in die Heimat zurückbringen würde, zu diesem harmlosen, interessanten Ausflug benützen?

So trat er dem ersten Beamten im russischen Dorf mit harmlos ausge- streckten Paß entgegen. Daraus entwickelte sich eine Verhaftung, ein Gerichtsverfahren, eine Verurteilung zu zwei Jahren wegen des schweren Verbrechens, die heilige Grenze der Sowjetunion für ein paar Minuten ohne das Sesam eines Visums überschritten zu haben, und ein rätselhafter Tod, der nach allen Indizien durch Mord, unbekannt von wem, verursacht wurde. Niemand kann den ungeheuerlichen Vorgang verstehen, der sich nicht den Geist eines totalitären Staates, ob er nun Rot, Braun oder Schwarz gefärbt ist, in den seinen übersetzen läßt.

Ein Austausch winkt...

Ein gefährlicher Spion der Sowjetunion, Igor A. Iwanow, war in den USA entdeckt und zu einer langen Kerkerstrafe verurteilt worden. Die Sowjetunion wollte ihn befreien, nicht so sehr um seinetwillen, da er doch nutzlos geworden war, als um die Kadi 011 von 100.000 Dollar frei zu , bekommen und um nicht andere Spione zu sehr abschrecken zu lassen. ,;Fürchtet euch nicht, ihr seht doch, wir bekommen jeden frei!“ In irgendeinem Lande zwischen Ural und Pazifik, zwischen dem Mittelländischen und dem Indischen Ozean wäre ein solcher Spion längst erschossen worden, aber diese unverständlichen Amerikaner sperrten ihr nur ein. Warum? Vielleicht hoffter sie, ihn zu einem Geständnis, zu einem Abfall, zu einem Verrat veranlassen zu können und schonter deshalb sein Leben? Wenn wir nur eines Amerikaners habhaft werden und ihn unter irgendeinem Vorwand zu Kerker verurteilen könnten, so werden wir ihn sicher gegen unseren Spion austauschen und unsere 100.000 Dollar frei bekommen können. Da führt uns das Glück einen naiven Touristen ins Netz, der kein Visum hat. Welch willkommene Schachfigur, und wenn es auch nur ein Bauer ist, so können wir ihn doch sicher gegen unseren Läufer austauschen.

Der Wink aus Moskau

Aber vielleicht ist er gar kein Bauer? Wenn Botschaft und Konsulat sich ihm so zur Verfügung stellen, ihm einen Anwalt bezahlen, sogar einen Konsulatsbeamten zu ihm ins Gefängnis und zur Verhandlung nach Archangelsk schicken, wenn sich aus USA Minister, Senatoren, Professoren für ihn verwenden, muß er schon einen besonderen Wert für seine Regierung haben. Lassen wir ihn also selbst den Austausch Vorschlägen. Wir werden gegen ihn alles anwenden, um den Austausch ange zeigt erscheinen zu lassen. Eine Verurteilung zu ein paar Jahren wird dazu sehr nützlich sein. Ein Gerichtsverfahren zu diesem Zweck? Recht — nach den Worten unseres großen Juristen Krylenko ist es doch nur ein Mittel im Klassenkampf, also ein sehr geeignetes Mittel im Kampf zwischen einem sozialistischen und einem kapitalistischen Land.

So läßt sich das rechtlich lächerliche und menschlich grausame Schauspiel dieses Gerichtsverfahrens im eisigen Archangelsk, von einem eisigen Befehl aus Moskau vorherbestimmt, erklären, das in dem Buch so anschaulich geschildert ist Eltern und Bruder des Angeklagten eilten mit großen Opfern aus ihrem kleinen Ort in Massachusetts nach Archangelsk, um ihren Sohn und Bruder nach den Leiden seiner Haft tröstend nach Hause zu nehmen — mit dem Erfolg, ihn zweimal für ein paar Stunden sprechen zu können, ehe er zu einer Strafe verurteilt wurde, die selbst seinem russischen Verteidiger und der Übersetzerin unbegreiflich erschien, die eben das Diktat aus Moskau nicht kannten.

Ein Gegenstück zum Falle Mott illustriert den Gegensatz. Da sind zwei russische Fischer, Peter Kali- tenko und Grigori Sarapuschkin, unter viel verdächtigeren Umständen als Mott in Alaska gelandet und haben um Asyl gebeten. Sie wurden weder angeklagt noch eingesperrt. Nach einiger Zeit änderten sie ihre Absichten und ersuchten um Repatriierung in die UdSSR, obwohl sie dort doch auf keinen zu freundlichen Empfang rechnen konnten. Diese unverständlichen Amerikaner ließen sogar ein eigenes Schiff aus- laufen, um sie zurückzuliefem, nur um dem sonst sofort auftauchenden

Letzter Vorschlag zur Rettung

Das muß man verstehen und darnach handeln. Ein Mittel, Mott zu retten, das der Verfasser, vergeblich, vorschlug, das auch von anderer Seite befürwortet wurde, wäre gewesen, alle Touristenreisen nach UdSSR zu sperren, bis Mott freigelassen würde. Der Hinweis auf die Gefahren, die einem Touristen drohen können, wäre eine ausreichende Begründung gewesen. Ein Griff nach dem Geldbeutel der UdSSR, die durch die eigentümlichen Methoden ihres Touristenverkehrs jährlich Dutzende von Millionen profitiert, hätte gewirkt. Denn dieser Geldbeutel ist für ein kommunistisches Land, besonders für ein kommunistisches Land, der Turm im Schachspiel, für den man flugs den Bauern hergibt. Denn im totalitären System ist der Anteil der Regierung am Gewinn größer als in der freien Wirtschaft, sie ist daher besonders geldempfindlich.

„Recht hat der Mensch, der einig ist mit sich.“ Ein Glied eines totalitären Systems hat „recht“, wenn es so handelt. Das paßt in das System, auch wenn es geleugnet und beschönigt wird. Solche Versuche zeugen nur von schlechtem Gewissen, wenn das natürliche Rechts- und Menschlichkeitsgefühl sich gegen die Begriffe des Systems sträuben. Denen widerspricht eben das System, darum hat es sich auch immer noch in der Geschichte, über Jahrzehnte oder Jahrhunderte, oft langsam, für die Betroffenen immer viel zu langsam, dem freien System genähert, um in ihm aufzugehen — bis wieder eine Katastrophe die Menschheit zurückwirft. Dieser Prozeß kann nur gefördert werden, wenn man das Wesen des anderen Systems, unabhängig von dessen Farbe und dessen Schlagworten, versteht. Dazu kann dieser Fall, und dieses Buch, dienen. Dann wird Mott nicht umsonst umgekommen sein.

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