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Die Revolution frißt ihre Kinder

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MARSCHROUTE EINES LEBENS. Von Jewgenija Semjonowna Gins bu r g. Deutsch von Swetlana Geier. Rowohlt-Verlag, Hamburg, 1967. 884 Seiten. DM 2 .—. — SONNENFINSTERNIS. Roman von Arthur Koesller. Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1967 (DTV 451). 255 Seiten.

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MARSCHROUTE EINES LEBENS. Von Jewgenija Semjonowna Gins bu r g. Deutsch von Swetlana Geier. Rowohlt-Verlag, Hamburg, 1967. 884 Seiten. DM 2 .—. — SONNENFINSTERNIS. Roman von Arthur Koesller. Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1967 (DTV 451). 255 Seiten.

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Ein Opfer der stalmistischen Säuberungen, J. S. Ginsburg, hat diie Erinnerungen an ihre Leidenszeit in sowjetischen Gefängnissen und Lagern niedergeschrieben. Ihre Chronik des Schreckens ist nicht nur van hohem dokumentarischen Wert; sie ist, und das zählt mehr, ein Zeugnis nie aufgegebener Menschlichkeit, der Liebes- und Leidensfähigkeit üner einfachen russischen Frau, die stellvertretend für viele namenlose Häftlingie jener Jahre des Terrors und der Wallkür spricht.

Frau Ginsburg, selbst eine gläubige Kommunistin und die Frau eines hohen Funktionärs im Tatarischen Gebietskomitee der Partei, arbeitete vor ihrer Verhaftung als Journalistin und Dozentin in Kasan. Ihre Schwierigkeiten begannen 1934, nach dem Attentat auf Kirow, das die erste Welle der „Säuberungen” auslöste. Freunde, Kollegien, Bekannte — fast lauter Parteigenossen — wurden damals verhaftet. 1937 kommt Frau Ginsburg selbst an die Reihe; aber sie begreift zunächst nicht, was da auf sie zukommt; ihr Glaube an die Partei ist noch ungetrübt, und nach dem Unterrichtsvea-bot beschließt sie, für ihr Recht zu kämpfen. Natürlich vergeblich, es kommt zum Parteiausschluß und bald darauf zur Verhaftung. Vor einem Moskauer Sondergericht wird Frau Ginsburg wegen „trotzkistischer, terroristischer, konterrevolutionärer Tätigkeit” zu zehn Jahren Einzelhaft verurteilt — ohne Geständnis übrigens, weil es nichts zu gestehen gibt.

„Ich möchte hier nicht als Heldin oder als Märtyrerin erscheinen. Ich bin weit davon entfernt, die Beharrlichkeit, mit der ich mich weigerte, die verlogenen, herausfordernden Protokolle zu unterschreiben, als besondere Heldentat hinzustellen. Und ich möchte keinen Vorwurf gegen die Genossen aussprechen, die unter dem Druck furchtbarer Qualen alles unterschrieben haben, was man von ihnen verlangte.

Ich habe ganz einfach Glück gehabt. Das Ermittlungsverfahren gegen mich war abgeschlossen, noch ehe die .besonderen Maßnahmen” allgemein angewandt wurden. Bei meiner Hartnäckigkeit nicht der geringsten Vorteil… Aber ich hatte doch einen großen Vorteil — ein reines Gewissen, das Bewußtsein, daß nicht ein einziger Mensch durch meine Schuld oder durch meinen Kleinmut in das ,Netz Luzifers” geraten war…”

Diese Sätze sind typisch für die Haltung der Ginsburg. Ihre Menschlichkeit triumphiert auch, und gerade, im Gefängnis. Später heißt es einmal von der Zeit der grausamen Einzelhaft:

„So qualvoll mein Leben dort war, niemals, weder früher noch später, haben sich meine guten Eigenschaften so frei entfalten können wie dort. Ganz sicher bin ich im Lauf jener zwei Jahre gütiger, klüger und feinfühliger gewesen als in meinem übrigen Leben…”

Ähnliches berichtet die Autorin vielen ihrer Leidensgenossinnen, von deren Mut, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft. Es ist bewegend wie diese Frauen einander beistehen und trösten, wie sie, jede geschwächt und krank, immer noch die Kraft finden, diejenigen wieder aufzurichten, die am Ende sind. Die meisten, mit denen Frau Ginsburg im Gefängnis zusammentrifft, sind politische Häftlinge und Intellektuelle (Kriminelle lernte sie erst in den sibirischen Lagern kennen), die sich nicht zuletzt durch geistige Auseinandersetzungen über Wasser halten. Wie in diesen Zellen gelesen wird — übrigens teilweise Bücher, die offiziell längst auf dem Index standen, in den Gefängnisbibliotheken aber noch vorhanden sind! —, wie man sich Gedichte durch die Wände zuklopft, das alles ist ebenso ergreifend wie bewundernswert.

Arthur Koestlers großer Roman „Sonnenfinsternis”, nach 1938 entstanden, mehrmals in englischer und deutscher Sprache aufgelegt, ist jetzt in einer preiswerten Taschenbuchausgabe zugänglich. Thematisch gibt es viele Parallelen zu den Erinnerungen der Ginsburg. Aber hier befinden wir uns nicht in der menschlichen Welt einer „einfachen Kommunistin”, sondern in der eisigen Atmoshäre marxistischer Theorie und Praxis. Koestler berichtet von dem Prozeß gegen einen prominenten Parteifunktionär, vom letzten Akt der Geschichte des mächtigen Volkskommissars Rubaschow, der, einst ein wohlfunktionierendes Rad im Parteiapparat, nun selbst im Gefängnis auf seine Verurteilung wartet.

Es geht um zwei Dinge in diesem Buch: Rubaschow überdenkt in der Isolierzelle eines großen Gefängnisses sein vergangenes Leben, das unter der Devise „Der Zweck heiligt die Mittel” gestanden hat. Bedenkenlos hat dieser Mann im Namen und Auftrag der Partei im In- und Ausland Menschenleben für die Bewegung geopfert. Als er dann selbst in die Vernichtungsmaschinerie geraten ist, die satanischen Methoden der Verhöre am eigenen Leib erlebt, beschließt er nach anfänglicher Rebellion, der Partei durch ein freiwilliges Geständnis einen letzten Dienst zu erweisen, um vor Augen zu führen, daß Opposition ein Verbrechen und jeder Oppositionelle ein Verbrecher ist.

Koestlers Roman gehört zu den frühesten Enthüllungen des stalini- stischen Terrors. Für ihn, der einige der prominentesten Opfer persönlich kannte, wurden die Ereignisse zum Anlaß seines Austritts aus der KP. Das ist die eine mögliche Konsequenz. Die andere hat Frau Ginsburg gezogen und gelebt. Sie glaubt trotz ihrer schrecklichen Erfahrungen weiter an die Reinheit der ursprünglichen Idee, deren Rettung für sie gewiß ist. Beides wohl gehört zum ganzen Bild der sowjetischen Wirklichkeit, das wir so selten zu sehen bekommen.

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