Wolfgang Schüssel: "Wir haben die Käfigtüre aufgemacht"

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Die ersten hundert Tage der Regierung Schüssel sind Geschichte und geben den Anlass, Bilanz über die bisherige Arbeit zu ziehen. Im FURCHE-Gespräch betont der Bundeskanzler, dass sich Mut gelohnt hat, er und sein Team für eine Zäsur im Land verantwortlich sind: Der Vogel könne wieder frei fliegen, viele Ideen und Initiativen seien mit dieser Regierung erst wieder möglich geworden.

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Die ersten hundert Tage der Regierung Schüssel sind Geschichte und geben den Anlass, Bilanz über die bisherige Arbeit zu ziehen. Im FURCHE-Gespräch betont der Bundeskanzler, dass sich Mut gelohnt hat, er und sein Team für eine Zäsur im Land verantwortlich sind: Der Vogel könne wieder frei fliegen, viele Ideen und Initiativen seien mit dieser Regierung erst wieder möglich geworden.

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DIE FURCHE: In dieser Woche findet die sogenannte Versöhnungskonferenz in der Frage der Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter statt. Was macht, was plant aber Ihre Regierung, um die mit dem Regierungsantritt offensichtlich gewordenen Brüche in der österreichischen Gesellschaft zu kitten, Versöhnung statt weiterer Polarisierung voranzutreiben?

Wolfgang Schüssel: Wir versuchen mit unserer Arbeit nicht zu spalten, sondern trotz notwendiger Strukturmaßnahmen die soziale Qualität und die soziale Wärme unserer Gesellschaft zu halten. Das ist ja der Grund, warum wir das Gesundheitssystem ändern und reformieren müssen, damit wir wirklich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt in dieser Qualität erhalten können.

Genau das Gleiche gilt bei den Pensionen. Wer hier aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen - ich erwähne nur die gestiegene Lebenserwartung - nicht Maßnahmen setzt, und beispielsweise mit der Anhebung des Frühpensionsantrittsalters reagiert, der gefährdet wissentlich die Zukunft der Jungen. Und das kann moderne, zukunftsorientierte Politik nicht tun.

Aber wir müssen insgesamt zur Kenntnis nehmen, dass niemand auf Dauer mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Das ist eine Rechnung, die offensichtlich durch Jahrzehnte außer Kraft gesetzt wurde. Und dieses alte Erbe des Sozialismus muss raus aus unseren Köpfen. Wir können auf die Dauer nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen.

DIE FURCHE: Die Forderung, nicht mehr auszugeben, als einzunehmen ist sicher für einen Teil ihrer Kritiker nachvollziehbar. Die Kontroverse ergibt sich eher in der der Verteilung der Mittel, in der Frage: Was ist sozial gerecht?

Schüssel: Sozial gerecht ist es, nicht Schulden zu machen, sondern sozial gerecht ist es, das Budget schuldenfrei zu gestalten. Sozial gerecht ist, nicht jeder Lobby-Gruppe nachzugeben, sondern ganzheitlich gedacht sozial gerecht ist, wenn wir Arbeit schaffen und wenn wir denen, die in Not geraten sind, wirklich helfen, und nicht denen, die es möglicherweise gar nicht brauchen. Diese Treffsicherheit ist gefragt. Da sind wir nach hundert Tagen noch nicht dort, wo wir hin wollen, das ist schon klar. Darüber wird es noch viele Diskussionen geben.

DIE FURCHE: In der Debatte über das Budget dieser Regierung hat die Opposition von "Sozialabbau" gesprochen. Dass es zu Leistungskürzungen und Mehrbelastungen gekommen ist, steht fest. Auf wessen Kosten ist die Budgetsanierung erfolgt?

Schüssel: Die schmerzlose Budgetsanierung ist noch nirgends auf der Welt erfunden worden. Aber wir haben uns sehr bemüht, die sozial schwachen Bürger möglichst nicht zu treffen. Und ich glaube, das ist uns gelungen. Wir haben ein sozial verantwortbares Budget vorgelegt. Damit haben wir den niedrigsten Defizitstand seit dem Jahr 1982 erreicht, aber wir sind noch nicht am Ziel, denn wir haben eine Reihe von Einmalmaßnahmen setzen müssen, die nicht unbegrenzt wiederholbar sind. Wir haben harte Budgetverhandlungen 2001 und 2002 vor uns, und wir werden das mit jener Sorgfalt machen, die die Warnungen von seiten der EU und die Zurufe der österreichischen Wirtschaftsforscher fordern. Was wir erreichen wollen, ist die Dinge strukturell zu lösen.

DIE FURCHE: Eine große Sorge beim Amtsantritt der ÖVP-FPÖ-Regierung war, dass das Klima für Ausländer im Land, für Asylanten und Minderheiten rauer wird. Was hat diese Regierung in den vergangenen hundert Tagen für eine bessere Integration genannter Gruppen getan?

Schüssel: Darf ich darauf sehr direkt antworten. Ich meine, das Klima gegenüber Ausländern, Flüchtlingen, Gastarbeitern und Touristen in Österreich, ist mit Sicherheit besser oder jedenfalls gleich gut, als in allen anderen europäischen Ländern. Wir halten hier jedem Vergleich stand. Kein Land der europäischen Union hat - gemessen an seiner Größe, und viele größere Länder nicht einmal in absoluten Zahlen - soviele Flüchtlinge aufgenommen, wie wir. Kein Land Europas hat soviel humanitär geleistet, wie wir. Wir werden auf diesem Weg einer behutsamen Integration, einer toleranten Aufnahme weitergehen. Das ist überhaupt keine Frage, und ich habe nicht das Gefühl, dass sich auch nur im mindesten etwas an der herzlichen Aufnahme von Gästen, von Flüchtlingen geändert hat, seit ich mit Susanne Riess-Passer diese Regierung führe.

DIE FURCHE: Nichts oder nur sehr wenig hat sich in den vergangenen hundert Tagen auch in der Haltung der EU-14 gegenüber der österreichischen Regierung geändert. Die Opposition wirft der Regierung vor, nicht wirklich an einem Ende der Sanktionen interessiert zu sein, sondern daraus innenpolitische Vorteile zu ziehen.

Schüssel: Das eine sage ich in aller Schärfe und Deutlichkeit. Ich und die ganze Regierung sind absolut daran interessiert, dass die Sanktionen lieber heute als morgen wegkommen. Ich betone das, damit die Legende endlich aufhört, die Regierung sei an einem Fortdauern der Sanktionen interessiert.

Wer immer diese Legende schürt, soll bitte laut sagen, weg mit den Sanktionen und an dem Tag, an dem die österreichischen Sozialisten sich eindeutig positionieren und fordern, die Sanktionen müssen weg, an dem Tag wird sich auch die europäische Sozialistische Internationale drehen, und von diesem Tag an gibt es kein Aufrechterhalten der Sanktionen mehr. Solange sie jedoch da sind, werden wir unsere Zeit und unsere Energie und unsere ganze Kraft dafür einsetzen, um mit aller Festigkeit diesen Sanktionen entgegenzutreten.

DIE FURCHE: Gerade wenn Sie um Vertrauen für ihre Koalition geworben haben, wenn Sie sich und Ihre Partei als Garanten für die Einhaltung humanitärer Werte und Rechte nannten, dann haben Sie sehr betont, dass die ÖVP die Christdemokraten im Land sind. Was bedeutet diese Bezeichnung für Sie, welche Forderungen stellt dieser Name an Sie und Ihre Partei?

Schüssel: Für mich war das immer mehr als ein Wort. Christdemokrat zu sein, ist eine inhaltliche Aussage. Christliche Verantwortung heißt für mich, dass ich die Kirche als einen der Bausteine unserer gesellschaftlichen Kultur respektiere und schätze. Dass ich die Bürgergesellschaft in all ihren Facetten und das Prinzip der Subsidarität hochachte. Christliche Verantwortung bedeutet, dass ich mich vor allem um die Schwächsten in der Gesellschaft - und das sind die Kinder - zuallererst kümmere. Ich möchte eine kinderfreundliche Gesellschaft aufbauen, auch wenn der eine oder andere Ökonom und Wirtschafter die Nase rümpft und sagt, da wird schon wieder eine Familienleistung gemacht. Ja, denn unsere Gesellschaft ist keine kinderfreundliche.

Ich kämpfe für die Einhaltung der Sonntagsruhe. Ich kämpfe dafür, dass wir denen, die einen Glauben haben, die Möglichkeit geben, im Schulunterricht ihre Werte voll und ganz vermitteln zu können. Ich kämpfe für Toleranz gegenüber allen Religionen und gegenüber jenen, die keinen Glauben haben. Das sind Dinge, die mir wichtig sind, und ich hoffe, wir leben das Gesagte ganz gut vor.

DIE FURCHE: Beim Hergehen ins Bundeskanzleramt sind mir Volksschulkinder vor dem Denkmal der Kaiserin Maria Theresia begegnet. Ich habe mitgehört, wie die Lehrerin die Schüler gefragt hat, was sie dieser Frau zu verdanken hätten. Stellen wir uns vor, es gibt irgendwann ein Denkmal von Ihnen, und es gibt eine Schülergruppe, die davor steht. Was würden Sie sich als richtige Antwort der Schüler auf dieselbe Frage wünschen?

Schüssel: Darf ich offen sagen, ich würde niemanden von uns heute mit einer Maria Theresia oder einem Josef II. oder ähnlichen Größen oder - aus der demokratischen, jüngeren Geschichte - mit einem Raab oder Figl vergleichen. Mir wäre wichtig, dass erstens einmal kein Denkmal errichtet wird, sondern man sich das Geld spart, und es irgendeinem Obdachlosenheim gibt oder einer kirchlichen Initiative, die sich für Straßenkinder in Rumänien oder für die Flüchtlingsbetreuung hier im Land einsetzt.

Ich würde mir wünschen, dass die Menschen - wenn eine Erinnerung haften bleibt - wissen, wir sind für eine Zäsur verantwortlich. Wir haben die Käfigtüre aufgemacht, für viele Ideen, für viele Initiativen. Der Vogel kann wieder frei fliegen. Und dennoch geht die Qualität der sozialen Wärme in unserer Gesellschaft nicht verloren. Wenn die Menschen sich erinnern würden, dass Mut sich manchmal auch lohnt, und man nicht immer mit den Medien heulen muss, trotzdem aber - oder gerade deswegen - in diesem Land etwas verändern kann, so ist das auch nicht ganz schlecht.

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