Damit nicht illegale Immigranten die Olympischen Spiele in London stören, werden Flüchtlinge, die in Calais auf die Überfahrt warten, vertrieben.
Diese Lichter! Wenn Abdullah nachts aus dem Zelt schaut, scheinen sie über das Meer herüber. Über Tausende Kilometer hat ihn der Gedanke daran getragen, und über eine gute Handvoll Grenzen! Das Zelt steht, zusammen mit zwei anderen, geschützt vor Wind und Blicken in einer Senke in den Dünen, hinter dem alten Hovercraft-Terminal, das immer mehr verfällt. Die Lichter am anderen Ufer dagegen funkeln, zumal für Abdullah. Manchmal denkt er, es sind die Lichter von London.
Natürlich ist es eigentlich nur Dover, das da die Nacht erhellt. Doch für einen Afghanen von 20 Jahren ist dies ohnehin nur Durchgangsland, ganz wie Calais, wo Abdullah schon seit drei Wochen auf den großen Wurf wartet. Als blinder Passagier auf einen Lkw, dann per Fähre die Meerenge überqueren, die nirgendwo schmaler ist als hier, und dann kann die Zukunft beginnen. London: ein Synonym für die Sehnsucht, die Abdullah antreibt.
London ist aber auch der Grund, warum das letzte Stück seines Weges so zäh ist. Zu den Olympischen Spielen werden in diesem Sommer Millionen Besucher erwartet. Migranten, die seit mehr als zehn Jahren von den Häfen der Kanalküste aus Großbritannien ansteuern, stehen nicht auf der Gästeliste. In Calais, mit stündlichen Fähren schon immer bevorzugter Absprungort, tut man daher alles, die ungebeten Passanten loszuwerden: noch mehr Kontrollen, noch mehr Festnahmen, das Abschiebegefängnis im nahen Coquelles ist voll. Denen, die es trotzdem versuchen, soll der Aufenthalt unmöglich gemacht werden.
Razzien der Aufruhrpolizei
Die Ruine, die dieses Spannungsfeld am besten beschreibt, liegt an einer unscheinbaren Kreuzung abseits des Stadtzentrums. Die geduckten Häuser ringsum lassen die zweigeschossige Fassade mit gähnend leeren Fensterlöchern umso brachialer wirken. Im ersten Stock sind drei Buchstaben an die Wand gesprüht: CRS. Die Einheiten der Aufruhrpolizei Compagnies Républicaines de Sécurité statteten dem Haus immer wieder Besuche ab, nahmen Bewohner fest und konfiszierten ihre Schlafsäcke. Ihrem Traum konnten sie nichts anhaben: "I love you England“ steht daneben. Seit die Jungles in den Küstenwäldchen systematisch geräumt werden, verlagert sich das Geschehen auf verlassene Gebäude. Fünf davon ließen die Behörden im letzten Jahr abreißen. Dieses hier, genannt Palestine Squat, war nach einer ganzen Serie von Razzien im Mai das letzte. Die früheren Bewohner schlafen nun auf den Straßen von Calais, überall, wo sich eine Möglichkeit findet. Es gibt Beobachter, die von einer "olympischen Säuberung“ sprechen.
Das "Hotel“ im Zollgebäude
Ein Vordach ist unter diesen Umständen schon viel. "Willkommen in unserem Hotel“, lacht Nadil bitter, ein Bauer aus dem kurdischen Nordirak. Das "Hotel“ ist die Rückseite eines verlassenen Zollgebäudes, mit vergitterten Fenstern und heruntergelassenen Rollläden. Für die zehn Männer, die hier schlafen, ist die Nacht kurz - nicht nur wegen der Versuche, auf einen Lkw zu gelangen. Im Morgengrauen sorgt die Polizei für unsanftes Erwachen. "Manchmal treten sie mich“, erzählt Nadil, "oder sie nehmen mir meinen Schlafsack weg.
Calais, England und die Transitmigranten: Das ist eine seltsam asymmetrische Dreier-Konstellation. Denn während London die Jugend der Welt mit dem Slogan "Inspire a Generation“ lockt, droht den Transitmigranten ein Sommer der enttäuschten Hoffnungen. Und zwar gerade, weil auch Calais von den Spielen träumt. Touristen präsentiert man sich neuerdings als "Vorort von London“, um sie mit aufwendigem Kulturprogramm zu einer Zwischenübernachtung zu locken. Und auch die Athlethen stehen im Fokus, denn 43 Equipes aus allen Kontinenten trainieren in diesem Sommer in der Region. "Calais empfängt die Welt“, heißt es in einer Broschüre. Für Transitmigranten ist in den olympischen Ambitionen kein Platz.
Was bleibt, sind Orte wie eine Hecke im Niemandsland, dort, wo die Stadt in den Hafen übergeht. Die Hecke ist das Basislager einer Gruppe tadschikischer Afghanen. Tagsüber verstecken sie ihre Decken und Schlafsäcke darin, abends sitzen sie davor. Reden oder schweigen, bis jemand "Chelsea Match“ sagt. Natürlich muss zunächst über den Zaun, wer ein solches angucken will. Und so setzen sich Basir, der erst 15 ist, und zwei andere in Bewegung.
Fünf Meter zieht sich das Gitter empor, in glänzendem Weiß ist es gestrichen. Im Laternenlicht verströmen zahlreiche Wildrosen davor eine seltsam deplacierte Anmut. Zwei Schritte, dann hängen sie am Zaun, und in mechanischen Schwüngen klimmen ein Dutzend Gliedmaßen nach oben. Kaum zehn Sekunden später erreicht der erste die Krone, dann der zweite, als auf der Straße ein Lkw vorbeidonnert. Sein Scheinwerfer streift die Gestalten hoch oben im Gitter, der Fahrer drückt auf die Hupe, dann sind die Afghanen auch schon unten.
Stille und Wünsche
Ihre Schatten huschen zu den Trucks. Das Ziel sind die Hinterachsen, deren mittlere beim Fahren genug Raum für einen blinden Passagier in geduckter Haltung lässt. Extrem gefährlich ist diese Transportart. Wer die Karosserie nicht im Griff behält, und das womöglich stundenlang bis zum nächsten Stopp, bezahlt leicht mit dem Leben. Basir und seine Freunde kommen soweit nicht. Nicht einmal eine Minute dauert es, bis die Sicherheitskräfte sie festnehmen. Vielleicht müssen sie die Nacht in Gewahrsam verbringen. Wenn sie Glück haben, lässt man sie wieder laufen.
Immer wieder rauscht Blaulicht am Zaun entlang. Die Streifenfrequenz ist enorm in Calais, doch um die Afghanen vor ihrer Hecke kümmern sie sich heute nicht. Ein junger Mann in Lederjacke, der sich Mosafer nennt - "das bedeutet Passagier“ - erzählt, wie er das alles schon einmal erlebte. 2009 war er dabei, als der große Jungle geräumt wurde. Fast die Hälfte der Bewohner war minderjährig. Mosafer war 19, doch wegen seines jungen Aussehens brachte man ihn wie die anderen Jugendlichen zwei Monate in einem Asylbewerberheim unter.
Danach kam Mosafer zurück an die Küste. Er schaffte es nach England, doch nach drei Jahren schob man ihn ab. Zurück in Afghanistan, machte er sich umgehend wieder auf den Weg. Nach acht Monaten war er wieder in Calais. "Wir kommen den ganzen Weg hierher, durch Iran, Türkei, Griechenland, Italien bis nach Frankreich. Wir leben im Jungle, machen all das durch, und wenn sie dich abschieben, ist es innerhalb von 24 Stunden vorbei.“ Es wird still vor der Hecke. Bis jemand sagt, er wolle sich ein Chelsea Match ansehen.
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