Flüchtlingselend und Bürgerwut

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Seit 15 Jahren ist Calais ein Brennpunkt europäischer Flüchtlingspolitik. Was macht diese Situation mit der Stadt und den Menschen, die dort leben?

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Seit 15 Jahren ist Calais ein Brennpunkt europäischer Flüchtlingspolitik. Was macht diese Situation mit der Stadt und den Menschen, die dort leben?

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Am 5. September hatte Calais genug. Gemeinsam mit LKW-Fahrern, deren Job immer heikler wird durch die Hindernisse, die verzweifelte Flüchtlinge auf die Straßen legen, blockierten Bewohner der Stadt die Zufahrt zum Hafen. Erst wenn der "Jungle", das inoffizielle Flüchtlingscamp in den Dünen, geräumt ist, wollten sie die Blockade aufgeben. Genau dies haben inzwischen die führenden Politiker des Landes zugesagt. Die Flüchtlinge sollen weggebracht werden, vermutlich schon kommende Woche. Durch das große Medienaufgebot hat die Welt derweil die Calaiser als xenophobe Wutbürger kennengelernt. Wieder einmal.

Viele Menschen hier sind es leid, dass ihre Stadt zur permanenten Kulisse eines unmenschlichen Flüchtlings-Dramas geworden ist. Großbritannien, das vermeintlich gelobte Land, dessen Küste an manchen Tagen mit bloßem Auge erkennbar ist, wird immer unerreichbarer, und jedes Jahr sterben Migranten beim Versuch, dorthin zu gelangen.

Dass der Jungle dabei stetig wächst, macht vielen Bewohnern von Calais Sorgen. So wie der Marktfrau, die an diesem Samstagmorgen auf der Place d'Armes im Zentrum ihr Obst anbietet und lieber anonym bleiben will. Das Thema ist beladen in Calais, nachdem die Stadt in den Fokus der Identitären rückte und sich vor Ort zwei migrantenfeindliche Gruppen bildeten: die rechtsextremen "Sauvons Calais" ("Retten wir Calais") und die selbsterklärt "apolitischen" Calaisiens en Colère ("Wütende Calaiser"), deren Demonstrationen an die Pegida erinnern.

Sorgen um Sicherheit

Die Marktfrau ist keine wütende Calaiserin und erst recht keine Identitäre. Sie ist eine Mutter, die sich Sorgen um ihre Kinder macht, wenn sie Geschichten aus dem Jungle hört: dass es dort Kämpfe gab zwischen Bewohnern, oder dass Migranten LKWs mit nächtlichen Autobahn-Blockaden zu stoppen versuchen. Passiert sei ihr zwar noch nie etwas, sagt die Frau, doch die Stadt habe sich sehr verändert. Wobei: "Das Ganze ist auch übertrieben durch die Medien. Calais hier, Calais da, das ist eine Psychose!"

Die Art, wie sich das Flüchtlings-Thema in der Stadt bemerkbar macht, hat sich durchaus gewandelt. Jahrelang war es in der Stadt nicht zu übersehen, etwa wenn Migranten in einem Hof zwischen Hafen und Leuchtturm zur Essensausgabe gingen, sich in leerstehenden Fabriken und Gebäuden niederließen, die irgendwann geräumt wurden, oder in Ermangelung anderer Unterkünfte auf einer öffentlichen Grünfläche schliefen.

Seit 2015 konzentrieren die Autoritäten alle Migranten im "Jungle" am Rand eines Industriegebiets, dessen chemischer Geruchscocktail berüchtigt ist. In der Stadt sieht man seither kaum noch einen Flüchtling.

Dafür ist Calais vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingskrise zum symbolischen Ort mit rasch steigendem Bedeutungsradius geworden. Wenn vor einem Jahr die "Calaisiens en Colère" die Marseillaise brüllend durch die Hauptstraße liefen und skandierten, dass Calais den Calaisern und die Grenze geschlossen gehöre, war das erschreckend, aber lokal begrenzt. Inzwischen überbieten sich französische Politiker mit Versprechen, den Jungle zu räumen und das Migrantendrama am Kanal zu beenden. Was natürlich Unsinn ist. Denn just dies hat man schon öfter probiert in den letzten Jahren, worauf sich die Szenerie kurzfristig an andere Häfen verlagerte und wenig später nach Calais zurückkehrte.

Da die Grenzkontrollen dank der bilateralen Verträge zwischen Paris und London auf französischem Boden stattfinden, wurden mit britischer Unterstützung die Kontrollen verschärft, die Zäune hochgezogen und eine vier Meter hohe Mauer gebaut. In der Stadt weiß man trotzdem: solange Calais der Großbritannien am nächsten gelegene Punkt des europäischen Festlands ist, werden Migranten es von hier aus versuchen.

Randlagen

Diese Erkenntnis trägt der geografischen Realität Rechnung, die sich überall in Calais zeigt. Schon wer am Bahnhof ankommt, sieht gleich hinter den Gleisen den Giebel eines früheren Hotels mit der Reklame-Aufschrift "English Spoken". Etwa stündlich verlässt eine Fähre den Hafen Richtung England, das man in Anspielung auf eine alte Feindschaft augenzwinkernd noch immer "la perfide Albion","hinterlistiges Britannien" nennt. In Calais selbst kann man sich auf anglophilen Pfaden durch die Stadt essen und trinken, vom Bistro L'Hovercraft über Le Liverpool hin zu Le Pub. Und in Cocquelles, einem Dorf beim Eingang zum Euro-Tunnel, laden Engländer den billigeren Wein des Kontinents palettenweise in ihre Autos.

Die neue symbolische Bedeutung ihrer Stadt wiederum stößt längst nicht nur auf Gegenliebe. "Ich finde, dass Politiker wie Hollande oder Sarkozy unsere Stadt für ihren Wahlkampf missbrauchen", sagt Céline Koche Roger. Sie ist in Calais aufgewachsen und lebt seit über 30 Jahren hier. Wie die Marktfrau ist auch sie eine zweifache Mutter, und besorgt dazu -wenn auch in ganz anderem Sinn. "Als ich die Seite von "Sauvons Calais" auf Facebook sah, wachte ich auf. Vorher kümmerte ich mich nicht um Politik. Aber damals dachte ich, ich müsste etwas für meine Kinder tun, damit das nicht so weitergeht."

Übervoll von Parolen

Nach der Straßen-Blockade im September war der Zeitpunkt gekommen. Céline Koche Roger und einige Freunde ärgerten sich, dass wieder das Bild des xenophoben Calais in die Welt transportiert würde und "alle Medien" die "Wir sind es satt"-Parolen wiederholten. Also verfassten sie ihren eigenen Facebook-Appell an die Presse und posteten ihn mit dem pittoresken Foto eines Sonnenuntergangs am Strand. "Liebe Medien", heißt es dort, "Calais geht es gut, danke". Es folgt ein Aufruf, die Stadt und ihre Bewohner endlich nuancierter zu sehen. "In den Zeitungen bekommen wir den Eindruck, dass dies ein Kriegsgebiet sei. Manche Bewohner schreien immer lauter, und es gibt rassistische Äußerungen in sozialen Netzwerken. Ja, es gibt Probleme. Aber aus Calais eine Festung zu machen, ist keine Lösung."

"Simples Calaisiens", die einfachen Calaiser, nennt sich die kleine Gruppe, mit der Céline Koche Roger zum Gegenangriff bläst. "Wir sind nicht viele, aber wir denken, dass Calais so nicht ist. Okay, es ist keine großartige Stadt, aber eine gute." Sie noch besser zu machen, ist Céline Koche Roger ein Anliegen. Darum arbeitet sie mit Bekannten gerade an einem Konzept für ein Gemeinschaftszentrum mit Café und Kochgelegenheit, Kultur- und Informations-Veranstaltungen, in dem alle Bewohner der Stadt willkommen sind.

Den Diskurs geprägt

Auch das Café La Timbale ist von diesem Geist gezeichnet. Und auch dort hat man einen etwas weiteren Blick auf das Thema Transitmigration: "Ich glaube nicht, dass es sich um ein Problem von Calais handelt", sagt Victor Lay, der Barkeeper. "Es ist ein Problem der Welt, oder Europas. Nur ist es eben so, dass Calais einfach nah an England liegt." Victor Lay ist 23 und hat sein ganzes bisheriges Leben in Calais verbracht. Mehr als die Hälfte davon haben die Transitmigranten den Diskurs in der Stadt geprägt, und das Bild von Calais nach außen. Ein Bild, das ihm nicht gefällt. "Die französischen Medien transportieren das Klischee von den rassistischen Calaisiens, sagt Victor. Aber das ist nicht alles."

Als Kind seiner Stadt weiß der Barkeeper auch um den Kontext, in dem bei manchen seiner Mitbürger Xenophobie gedeiht. Die einst legendäre Spitzenindustrie ging den Bach hinunter, die Fabriken schlossen, viele Menschen verloren ihre Arbeit. Die eigene Armut begünstigt das Gefühl der Benachteiligung. Was sich gleichwohl nur so lange hält, bis man die Verhältnisse im Jungle mit eigenen Augen gesehen hat. Genau das aber haben die meisten Menschen in Calais nicht. Victor Lay ist eine Ausnahme. Als Bassist des Calaiser Jazz-Trios "De Saturne" ist er dort schon aufgetreten, und war beeindruckt. "Wir haben dieses Jahr auf dem Festival in Glastonbury gespielt. Aber das Konzert im Jungle war unser Bestes. Diese Gesichter im Publikum!"

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