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Hilfe als ein Gnadenakt?

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Not ist nicht nur individuell verursacht, sondern kommt auch aus strukturellen Schwächen. Und wenn rasch geholfen werden muß, ist der Amtsweg für Notlei- dende lang. Oft zu lang.

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Not ist nicht nur individuell verursacht, sondern kommt auch aus strukturellen Schwächen. Und wenn rasch geholfen werden muß, ist der Amtsweg für Notlei- dende lang. Oft zu lang.

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Es gibt immer wieder Menschen, die aus irgendwelchen Gründen aus dem sozialen Netz herausfal- len, die nicht die notwendigen Ansprüche erworben haben und bei denen aber die Caritas völlig über- fordert wäre. Man denke etwa nur an den Anspruch auf eine ausrei- chende Pension, wenn entsprechen- de Versicherungszeiten fehlen.

Es sind aber auch unter anderem so manche, „stehengelassene" jun- ge Frauen mit Kindern zu nennen, die an der Schuldenlast des ver- schwundenen Mannes zu tragen haben, an Asylwerber, die aus der Bundesbetreuung entlassen werden und nicht wissen, wie es weiterge- hen soll oder an total überschuldete Personen, deren Existenz (ein- schließlich der Familie) aufs äußer- ste gefährdet ist.

Im allgemeinen ist es aber doch so, daß sich die Sozialhilfe - und hier wie im folgenden ist sie im weitesten Sinne gemeint und nicht eingeengt auf die gesetzlich festge- legten Ansprüche - wie auf die freie Wohlfahrtspflege gründen.

Leider ist es nicht immer so, daß die beiden - Sozialstaat und freie Wohlfahrtspflege - sinnvoll mitein- ander kooperieren, sondern sie sind oft nur zusammenhanglos neben- einander tätig. Aus der täglichen Erfahrung in der Caritas wissen wir aber heute nur allzu gut, daß bei einem Großteil der Menschen, die zur Caritas kommen, ein Zu- sammenwirken freier Wohl- fahrtspflege und sozialstaatlicher Stellen unbedingt erforderlich ist, will man dem Betroffenen wirklich und für Dauer helfen.

Dies gehört wohl auch zum Phä- nomen der neuen Armut. Sie ist eben auch dadurch zu charakteri- sieren, daß sie vielschichtig, kom- pliziert und umfassend ist.

So gesehen, bedarf es heute für eine sinnvolle und wirksame So- zialhilfe beider, der sozialstaatli- chen und der freien, caritativen Hilfeleistung in einer möglichst guten Koordination. So wäre es töricht, den Sozialstaat nicht beja- hen zu wollen, auch wenn er heute durch verschiedene Entwicklungen, durch zusätzliche Belastungen und wohl auch durch manche kleine Erschütterungen sozialstaatlicher Funktionen neben seinen Möglich- keiten und Stärken auch seine Grenzen und Schwächen zeigt. Und auch wenn er von einzelnen Mit- bürgern nur als .".Melkkuh" betrach- tet und genützt wird.

Selbst dann ist der Sozialstaat noch grundsätzlich zu bejahen, wenn da und dort versucht wird, entweder die freie Wohlfahrtspfle- ge an den Rand zu drängen, bezie- hungsweise sie über Gebühr zu reglementieren, oder wenn man andererseits Sozialfälle unge- rechtfertigt an die freie Wohlfahrts- pflege abschiebt.

Für eine dauernde und umfas- sende soziale Sicherheit ist nun einmal die gesetzliche Bereitstel- lung und Ordnung der nötigen fi- nanziellen Mittel erforderlich. Dies kann von keiner Einrichtung der freien Wohlfahrt geleistet werden. Ebenso töricht wäre, den Sozial- staat wie auch die freie Wohlfahrt im allgemeinen und die Caritas im besonderen, für unnötig oder als überholt zu betrachten.

Zwei gewichtige Gründe spre- chen jedenfalls für das Vorhanden- sein und Wirken der freien Wohl- fahrtspflege.

1. So perfekt kann kein Sozial- staat sein, daß nicht auch direkte Hilfeleistungen von Mensch zu Mensch und durch ergänzende freie Einrichtungen notwendig wären. Dies zeigte sich im besonderen Maße bei den Fällen, die wir „neue Ar- mut" nennen. Außerdem ist auch kein Staat wünschenswert, der dem Bürger alle Anstrengungen ab- nimmt, den Menschen total erfaßt und ihm keinen Spielraum mehr für verantwortungsbewußtes Han- deln am Nächsten läßt.

2. Menschliche Persönlichkeit verwirklicht sich wesentlich auch in der Begegnung und Zuwendung zum anderen Menschen, das heißt, auch im freiwilligen und unmittel- baren Dasein für andere und im direkten Helfen, also nicht nur über bürokratische Wege und durch den entsprechenden Abzug vom Brut- tolohn.

Dieses Zusammenwirken von Sozialhilfe und Caritas geschieht de facto in einem Spannungsfeld. Spannungsfeld deswegen, weil man wohl Grundsätze für das Zusam- menwirken und für die spezifische Aufgabenstellung festlegen kann, aber in der Auslegung derselben kann es schon zu erheblichen Mei- nungsverschiedenheiten kommen, erst recht bei mancher Zielsetzung von Maßnahmen, deren Inhalt oder Art und Weise der Durchführung.

Deshalb muß man in einem stän- digen Dialog bleiben, der jeweils konkret an bestimmten Problemen zu führen ist. Dazu kommt auch noch, daß der größte Teil der So- zialgesetzgebung Ländersache ist, was manches gesamtösterreichisch schwer verständlich macht oder verkompliziert.Und schließlich darf man heute unter Sozialhilfe nicht nur die gesetzliche als solche gefaß- te verstehen. Caritas versteht sich dabei als ein dynamisches Element im Sozialstaat.

Der Sozialstaat ist kein eigen- ständiger monolithischer Block, auch wenn durch die Eigenstän- digkeit der Sozialbürokratie manchmal dieser Eindruck ent- steht. Vielmehr ist er eine Funktion des gesellschaftlichen Willens. Des- halb kommt es wesentlich darauf an, welche Gruppen sich am ge- meinsamen Willensbildungsprozeß des Staates beteiligen.

Die Caritas hat eine doppelte Funktion in diesem Prozeß: sie hat die Erfahrungen in der Begegnung mit der Not zu reflektieren und in den Entscheidungsprozeß des So- zialstaates einzubringen, und die Caritas hat gesellschaftliche (und staatliche) Wertordnung am Maß- stab des Christlichen zu messen und Widersprüche aufzuzeigen. Sie darf daher nicht, wie oft gefordert wird, nur im Stillen helfen. Sie hat mit der Verantwortung für den Mit- menschen auch eine soziale Kom- petenz. Wer sonst soll für die Ar- men reden als der, der Arme erlebt?

In der konkreten Hilfeleistung er- lebt natürlich die Caritas immer wieder auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Not ist eben nicht nur individuell verursacht, sondern kommt auch aus strukturellen Schwächen.

Einige Beispiele dafür: Woh- nungsnot, überzogene Mieten, Scheidungsfolgen, Arbeitslosigkeit, zu niedrige staatliche Hilfeleistun- gen, ungleiche Behandlung von Mann und Frau in der Entlohnung. Diese Beispiele mögen darauf hin- weisen, daß Helfen auch auf Verän- derungen gesellschaftlicher Struk- turen ausgerichtet sein muß. Cari- tas muß sich daher auch an die Öffentlichkeit wenden und an den Sozialstaat, sie muß Meinungsbil- dung betreiben und für Gerech- tigkeit eintreten.Zu den zentralen Erfahrungen der täglichen Caritas- arbeit gehört die Zusammenarbeit mit der Sozialbehörde. Sie ist der direkte Ort der Begegnung der Notleidenden mit dem Sozialstaat. Wer Hilfe vom Staat erwartet (im Sinne des Rechtsanspruches), muß zum Sozialbeamten.

Dort zeigt sich dann, daß der Sozialstaat deutliche Grenzen hat. Er kann auch nicht alles „lösen" und ist auf die Kooperation mit nichtstaatlichen Einrichtungen angewiesen. Die Rechtsstaatlich- keit bindet die Beamten an Gesetze und Verwaltungsverfahren. Sie dürfen nicht (wie die Caritas) nach „freier" Erkenntnis Not anerken- nen, sondern müssen sich an die Definitionen und Vorschriften der Gesetze halten. Entspricht ein Notleidender diesen nicht, dann muß er unverrichteter Dinge wie- der gehen.

Ein anderer Gesichtspunkt ist, daß ein Verwaltungsverfahren - Antrag, Prüfungsverfahren, Be- scheid, Aktenvermerke, Überwei- sungslaufzeit - vorgeschrieben ist. Dies hat inzwischen zu einem aus- gefeilten und häufig übertriebenen Sozialbürokratismus geführt, dem sich auch viele Beamte mit unbüro- kratischer Einstellung nicht mehr entziehen können. Die Caritas wird deshalb - vor allem für engagierte Beamte - zu einem wirklichen Kooperationspartner, der Schnel- ligkeit, Entscheidungsfreiheit und einen unbürokratischen Ablauf der Hilfe sichert. Der Notleidende als Sub j ekt der Hilfe hat auf diese Weise nicht unter bürokratischen Bela- stungen zu leiden. '

Eine andere Seite der Sozialbü- rokratie: Die gesetzlich gesicherte Macht ist immer wieder eine Versu- chung für einzelne Beamte und Politiker. Die Gesetze bieten den Zuständigen die Möglichkeit, Hilfe zu gewähren oder abzulehnen. Das erzeugt ein Gefühl der Mächtigkeit und Kompetenz. Beziehungen zwi- schen Beamten und Antragstellern können daher zu einem Untertä- nigkeits- oder Abhängig- keitsverhältnis führen.

Der Rechtsanspruch gleitet lei- der hin und wieder in die Gewäh- rung eines Almosens ab. Da hilft auch nicht das rechtliche Instru- ment der Berufung. Welcher Not- leidende hat schon den Mut, Beru- fung einzulegen? Sehr häufig kommt es deshalb zu aggressiven Konfrontationen zwischen den Notleidenden und den Behörden, wobei der Notleidende immer den kürzeren zieht.

Schlimm ist die Erfahrung, wenn Sozialgesetze (!) zur Disziplinierung Notleidender verwendet werden. Der Begriff „Sozialschmarotzer" findet hier einen Teil seiner Nah- rung. Zu nennen ist auch der Miß- brauch sozialstaatlicher Hilfsmög- lichkeiten für Wahlzwecke, auch zum parteipolitischen Nutzen. So etwa, wenn dem Hilfeempfänger deutlich gemacht wird, wer ihm die Hilfe gewährt hat. Der Notleidende wird zum Objekt fremder Ziele. Gleichermaßen kann in der zeitli- chen Nähe von Wahlen eine stei- gernde sozialpolitische Aktivität (manchmal Versprechen) beobach- tet werden, die nach der Wahl wie- der in der Tagesordnung politischer Tätigkeiten verschwindet...

Der Autor ist Caritas-Direktor der Diözese Linz. Der Beitrag basiert auf einem Referat bei der Katholisch-Sozialen Tagung am 27. Mar/ 1990 in Wien.

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