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Eine Zukunft für die Straßenbuben

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Tausende von Kindern verwildern in den Straßen der kolumbianischen Metropole Bogota: die „Gamines”, wie dieses junge Straßenvolk allgemein bezeichnet wird. Die Behörden Kolumbiens kümmern sich so gut wie gar nicht um sie. Aber eine Chance bietet sich für sie doch, um aus dem Elend herauszukommen: der „Club Mi-chin”. Und Österreich greift diesem „Club” mit finanziellen Mitteln kräftig unter die Arme.

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Tausende von Kindern verwildern in den Straßen der kolumbianischen Metropole Bogota: die „Gamines”, wie dieses junge Straßenvolk allgemein bezeichnet wird. Die Behörden Kolumbiens kümmern sich so gut wie gar nicht um sie. Aber eine Chance bietet sich für sie doch, um aus dem Elend herauszukommen: der „Club Mi-chin”. Und Österreich greift diesem „Club” mit finanziellen Mitteln kräftig unter die Arme.

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Sein Haarschopf ist dicht, ungekämmt, die Kleider zerrissen, die Nase rinnt, aber eine kleine schmutzige Hand drückt den Ball fest an den Körper und die andere liegt in der Hand der jungen Frau. Sein Alter ist schwer zu bestimmen V er hat für ein Kind schon zu viel erlebt. Hier, im Jugendzentrum des „Club Michin” in Bogotas Bezirk Rincön Suba, hat er Neues gelernt: es gibt bessere Spielplätze als die Straße, man darf und kann Vertrauen haben.

Die junge Frau, eine Psychologin mit Namen Nubia Ferrera, ist für die Leitung des Jugendclubs, in dem jede Woche dreihundert Kinder, manchmal mehr, kommen und gehen, verantwortlich.

EDITH DARNHOFER berichtet aus Bogota

Die junge Frau erzählt vom langen Weg, der beschritten werden muß, bis so ein Lauser weiß, daß es hier besser ist als auf der Straße. Täglich schwärmen junge Burschen (denn ein Erwachsener ist zunächst einmal Feind) aus und holen die streunenden Kinder. Nur manche von ihnen kommen bis in das Jugendzentrum mit, aber von diesen kehren viele täglich wieder.

Es ist jedoch eine Geschichte, die neben Engagement und Herz auch Mittel verlangt.

Die Lausbuben, welche das Straßenbild in Bogota prägen, sind in Europa längst bekannt. „Gamines”, manchmal als jugendliche Räuber- und Diebsbanden, manchmal als unglückliche Kinder gezeichnet, gehören zu den häufigsten Foto- und Filmsujets ausländischer Journalisten.

Richtig an diesem Klischee über Bogota sind nur zwei Dinge: Es gibt in der Fünf-Millionen-Metropole mehrere Tausend Kinder, die auf der Straße leben. Das reiche Kolumbien, das spielend 100 Mio. Dollar für die Fußballweltmeisterschaften 1986 bereitstellen kann, kümmert sich—sieht man davon ab, daß die Buben, etwa bei hohem Besuch, eingefangen und mit kahlgeschorenen und deshalb entlausten Köpfen wieder losgelassen werden — kaum um sie.

Wer sich um das junge Straßenvolk kümmert, ist der „Club Michin”, dessen Budget nur mit 12 Prozent durch regelmäßige Zuschüsse von staatlichen Stellen gesichert ist. Im übrigen muß der Verein von Spenden leben. Zu den Spendern gehören auch viele Österreicher.

Das Programm des Clubs, über 24 Jahre hinweg entwickelt und erprobt, ist umfangreich. In Jugendzentren, wie in Rincön Suba, in Tagesheimen und in fünf Familienhäusern, die über die Stadt verstreut sind, bietet er mehreren hundert Kindern Schutz und Obsorge. Das Ziel: die Gamines von der Straße wegzuholen und ihnen das Rüstzeug für ein Uberleben unter den widrigen Umständen ihrer armen Herkunft und traurigen Umgebung mitzugeben. Der Club ebnet ihnen den mühsamen Weg zur kleinen Freiheit der tüchtigen Handwerker Kolumbiens (die große Freiheit, der soziale Aufstieg, bleibt den meisten von ihnen freilich verwehrt).

Die Hilfestellung des „Club Michin” reicht vom verkehrsgeschützten Fußballplatz (der sonst immer nur eine Straße ist) und regensicheren Lern- und Freizeiträumen über Lernhüfe für die Schule (soferne die Buben überhaupt eine Schule besuchen) und Verpflegung in Tagesheimen bis hin zur Aufnahme (für einige glückliche Dutzend besonders begabte Kinder) in die Familienhäuser, die von Ehepaaren mit eigenen Kindern als Großfamilie geführt werden.

Uber diesem Grundmuster liegt ein Netz intensiver sozialer Maßnahmen, das aus der Erfahrung stammt, daß es mit der Sorge um die Gamines alleine nicht getan ist: Erst wenn die Passivität und die häufig versteckte Feindseligkeit, die das Leben im städtischen Elend mit sich bringt, durchbrochen werden, gibt es Hoffnung und Änderung. Deshalb kümmert sich der Club auch um die Familien der betreuten Kinder.

In Rincön Suba, etwa, gibt es im Zentrum auch psychologische Betreuung, Elternabende, Theateraufführungen, oder auch - bei einem Plastikbecher Cola und einfachem Gebäck — gemeinsame Feiern an Festtagen. Täglich sind auch mehrere Sozialarbeiterinnen in Bogota unterwegs, um die Familien der vom Club versorgten Kinder daheim zu besuchen. Vom einfachen Gespräch bis zur Beratung bei Partnerstreit (legale Ehe gibt es in diesen Kreisen kaum) oder Erziehungsschwierigkeiten reicht die Hilfe.

Umfassende Fürsorge

Trotz der relativ kurzen Zeit, welche die Kinder in dieser oder jener Form in der Obhut des Clubs verbringen, ist durch die auch die

Eltern, Mütter und Geschwister umfassende Sorge der Erfolg da.

Der Apparat, der für eine so umfassende soziale Tätigkeit notwendig ist, ist erstaunlich klein. Das Team der bezahlten Mitarbeiter (Psychologen, Sozialarbeiter, Eltern in den Familienhäusern, Köchinnen, Aufräumerinnen, Verwaltungspersonal und Teilzeitärzte) erreicht kaum drei Dutzend. Umso größer ist der Einsatz der ehrenamtlich Tätigen, meist engagierte kolumbianische Frauen aus dem Großbürgertum.

Die Leistungen des Clubs haben dazu geführt, daß seit Jahren die Ausländergemeinden in Bogota mithelfen und auch aus dem Ausland Spenden fließen. Die Österreicher-Vereinigung in Bogota ist auf diese Weise traditionell mit dem „Club Michin” verbunden. Der Kontakt nach Europa läuft über die „österreichische Lateinamerika-Hilfe” in Wien. Sie organisiert in ganz Österreich Basare mit echtem südamerikanischen Kunsthandwerk. Der Verkaufserlös fließt nach Lateinamerika, zum Beispiel in den „Club Michin”, zurück.

Direktor Jorge Ortiz,- der für den Club in Bogota immerhin ein jährliches Budget von etwa drei Millionen Schilling abwickeln muß, legt gerne seine Bücher offen. Er will, daß jeder Österreicher weiß, daß seine Spende gut angelegt ist. Immerhin bekommt er jetzt auch über die „Lateinamerika-Hilfe” vom „österreichischen Solidaritätsfonds für Kinder der Dritten Welt” des Bundeskanzleramtes für den Ausbau des Jugendzentrums in Rincön Suba eine Million Schilling.

Ihn schreckt der damit verbundene Papierkrieg — Kostenvoranschläge, Abrechnungen, Bauberichte — zwischen Wien und Bogota nicht. Viel ärger ist die Mühsal hier in Bogota, bei einer Inflation von 30 Prozent, zu günstigen Preisen und termingerecht zu bauen. Denn Bogota wächst so rasch, daß selbst im voraus bezahlte Baumaterialien schwer zu bekommen sind.

Was Jorge Ortiz Kopfzerbrechen macht, ist die unumgängliche Vorfinanzierung - so kurzfristig sie auch ist —, bis die nächste Rate aus Wien kommt Kommerzzinsen von 60 Prozent pro Jahr schließen einen Überbrückungskredit aus. Die Vorfinanzierung muß er aus dem Topf der laufenden Kosten decken. Dieses ist Ortiz* tägliches Finanzproblem, denn aus diesem Topf, dessen Zufluß mit den Spenden schwankt, muß er die Verpflegung der Kinder, die Kosten für Strom, Gas und Wasser, für Unterrichtsmaterialien und Bücher sowie die Gehälter zahlen.

Finanzierungsprobleme

„Es ist leichter”, so der Direktor, „große Beträge für einzelne Projekte zu bekommen. Da können wir dann etwas vorzeigen. Für Unterhaltskosten Gelder zu bekommen, ist viel schwieriger — da kann man nämlich kein Schildchen dranhängen.*^

Auch für dieses Problem wird an einer Lösung gestrickt. Man bittet, wenn die Sache für den Spender ein Schildchen haben muß, zum Beispiel um ein Jahresgehalt für eine Sozialarbeiterin, oder um die Bezahlung der Stromrechnungen für ein Jahr... (A proposito, um wie ein Bogotaner zu reden, die Kontonummer der „österreichischen Lateinamerika-Hilfe” bei der Postsparkasse ist 7773.000, Stichwort „Club Michin”.)

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