6681325-1961_45_15.jpg
Digital In Arbeit

„Ein Buch lesen… wozu?”

Werbung
Werbung
Werbung

„Ich möchte bei Ihnen Bücher um 1000 Schilling bestellen. Können Sie die Bücher möglichst rasch liefern? Wir sind nämlich eben dabei, unser neues Gästezimmer einzurichten.” — „Welche Bücher sollen es sein, gnädige Frau?” — „Ach, Sie als Buchhändler wissen das besser als ich. Ich verlasse mich da ganz auf Sie. Wenn möglich, vielleicht dunkelblaue Einbände …”

„Maria, ich bitte dich, ich habe heute wieder mit Dr. X ein Rendezvous. Hilf mir! Erzähle mir, bitte, rasch den Inhalt von ein paar Büchern, die du gelesen hast. Ich habe noch nie ein Buch zu Ende gelesen. Weißt du, ich stehe es einfach nicht durch, so 200 oder 300 Seiten zu lesen. Wenn wir Spazierengehen, redet der Doktor ständig von Büchern. Also erzähle mir rasch etwas…”

„Unser Bub liest den ganzen Tag, Herr Lehrer. Was soll ich da tun? Sagen Sie nicht auch, der Bub muß ja verblöden? Ein vernünftiger Mensch liest vielleicht hin und wieder einmal in einer Illustrierten oder einer Zeitung, aber dicke Bücher… ! Ich würde sie ihm ja nicht kaufen. Er leiht sie sich immer aus der Schülerbibliothek aus. Verbieten Sie es ihm, Herr Lehrer!”

„Du hast eine riesige Bibliothek da in deinem Zimmer! Sag, kommst du eigentlich zum Lesen? Ich überhaupt nicht. Ich bin ständig in Parteisachen unterwegs, muß Reden und Referate halten. Ständig kommen Rundbriefe und Broschüren von der Parteileitung. Das alles muß ich natürlich lesen. Ein Buch habe ich — im Vertrauen — seit der Schulzeit nicht mehr gelesen.”

„Mein Mann gibt zuviel Geld für Bücher aus. Es gibt deswegen oft Streit. Wir haben nämlich jetzt zu Hause eine volle Wand Bücher, aber noch immer keinen Kühlschrank. Er liest mit seinen 30 Jahren noch so viele Bücher, als wäre er immer noch Student. Ich sage immer zu ihm: Du kannst noch so viele Bücher lesen, deswegen bekommst du im Monat um keinen Schilling mehr Gehalt!”

Diese Gespräche und Äußerungen entstammen nicht etwa dem Repertoire eines zeitkritischen Kabaretts. Es handelt sich um echte Szenen aus dem Alltag der Gegenwart.

Das Buch spielt im Alltag des sogenannten „Durchschnittsmenschen” — trotz der Tatsache, daß es ein Analphabetentum bei uns so gut wie nicht gibt — eine sehr geringe Rolle. Man sieht in Büchern häufig nichts anderes als bedrucktes Papier. Die Zahl jener Arbeiter- und Baueinfamilien zum Beispiel ist gering, in denen man außer einem Kalender noch andere Bücher antrifft. Für die nordischen Staaten hingegen gilt das Gesagte bekanntlich in einem weitaus geringeren Ausmaß.

Vielfach hat eine vorhandene Bibliothek — auch in sogenannten „gehobenen Kreisen” — nur die Funktion, eine Kulturatmosphäre vorzutäuschen. Auch dort, wo größere Bibliotheken im Hause anzutreffen sind, herrscht nicht immer ein lebendiges Verhältnis zum Bildungsmittel Buch.

Man schätzt, daß es etwa in einem Drittel unserer Haushalte kein einziges Buch gibt. Diese Annahme, die auf Erfahrungen und Beobachtungen von Buchhändlern fußt, wird durch Untersuchungen von Rolf Fröhner, über die Dr. Kieslich kürzlich in den Bertelsmann-Briefen berichtete, gestützt. Auf Grund von in 285 Befragungsbezirken durchgefiihrten Interviews kam man zu dem Ergebnis: 32 Prozent der Erwachsenen besitzen kein Buch.

Nicht wenige Menschen sind der Ansicht, Bücher seien etwas Lebensfremdes und sie erzögen zu Lebensuntüchtigkeit. Man läßt sie höchstens für Kinder, Großmütter und Mummelgreise gelten. Sie sind „Spielzeug” bzw. Zeitvertreib, nicht mehr. Im allgemeinen gelten sie weithin als unnützer Ballast.

Zur Nachtzeit Mcnschenschlangen vor Buchhandfungen … ! Die Menschenschlange harrt bis zum Morgen aus, weil dann das Geschäft Subskriptionen entgegennimmt. Nein, nicht bei uns! Sondern in Moskau und Leningrad! — Es bildet kein Geheimnis, daß man uns in den Ostblockstaaten auf dem Buchsektor hinsichtlich Absatz und Produktion weit überlegen ist. Buchhandlungen erscheinen in einem Maße frequentiert zu werden wie bei uns nur Restaurants und Espressos.

Wie läßt sich dies erklären? In erster Linie wohl durch die ununterbrochene

Propaganda für das Bildungsmittel Buch, ferner durch den niedrigen Preis und durch nahezu vollkommene Ausschaltung minderwertiger Kolportageschriften.

Vor uns liegt ein in Leningrad gekaufter, rund 500 Seiten starker Heine- Gedichtband in Ganzleinen. Preis 50 Kopeken. Dies entspricht ungefähr einem Zweihundertstel eines Monatsverdienstes von einem russischen Arbeiter. Auf österreichische Verhältnisse übertragen, betrüge der Preis des Werkes etwa das Siebenfache.

„Wer den Geist des Volkes kennen- lernen will, studiere die Leihbibliotheken”, meint Wilhelm Hauff. — Nach den Untersuchungen von Fröhner entlehnen 37 Prozent der Leser Bücher in Bibliotheken oder bei Freunden und Verwandten.

Was sagt der Leiter einer Fachbücherei über seine Beobachtungen und Erfahrungen mit den Lesern?

„Unsere Bücherei wird ziemlich stark frequentiert, vor allem von jüngeren Leuten, die sich auf Prüfungen vorbereiten und hierzu Unterlagen benötigen. Noch vor 20 Jahren etwa konnte man beobachten: je dicker der Wälzer, desto lieber wurde er mit nach Hause genommen. In unserer Zeit ist das Buch mit der geringsten Seitenzahl gewöhnlich am beliebtesten. Ich werde nicht selten gefragt: Haben Sie nicht ein dünnes Buch, in dem das Wesentliche der Sache behandelt wird? — Wir führen neben Fachliteratur auch Belletristik, doch nach dieser wird in der Bücherei nicht sonderlich viel gefragt. Im allgemeinen wurde früher viel mehr gelesen als heute.”

Es gibt in unserem Lande eine große Zahl von Volksbüchereien. Fast jedes Dorf besitzt eine solche. Doch stellen diese Büchereien auch einen ins Gewicht fallenden Bildungsfaktor dar?

Mit Ausnahme einiger weniger größerer Bibliotheken in den Großstädten führen die meisten von ihnen ein ziemliches Schattendasein, ln vielen wird oft kaum ein gutes Dutzend Bücher im Jahr entlehnt. Manche existieren nur in den amtlichen Statistiken, Büchereien nämlich, aus denen während eines Jahres kein einziger Band den Weg zu einem Leser findet.

So muß festgestellt werden: Diq, bestehenden Büchereien könnten für die Volksbildung von eminenter Bedeutung sein, doch in der Gegenwart werden sie in der Regel zuwenig genützt.

Für Ausbau und Werbung fehlt es durchweg an finanziellen Mitteln. Wie häufig sind Büchereien in unansehnlichen Hinterstübchen oder in Kästen in einem Stiegenhaus irgendeines öffentlichen Gebäudes untergebracht! Ferner fehlen für die Buch- und Leserbetreuung vielfach geeignete Kräfte. Da die Arbeit der einzelnen Bibliothekare in der Regel ehrenamtlich erfolgt, drängt sich selten jemand zu diesem Amte. Es nimmt daher keineswegs wunder, wenn viele Bibliotheken Betreuern anvertraut sind, die in der Verwaltung bloß eine zusätzliche Belastung ihrer anderweitigen Berufsarbeit erblicken und so keineswegs besonders einsatz- freudige Förderer des Büchereiwesens verkörpern.

Welche Bücher liest Herr Jedermann am liebsten? Natürlich Romane! Noch immer sind solche, die in bäuerlichem Milieu spielen, begehrt. Für Ganghofer und ihm verwandte Autoren besteht — vor allem auf dem Lande — auch heute noch reges Interesse. Trotz des Lamentos vieler Gegenwartsschriftsteller und Volksbildner zählt Ganghofer — die Gesamtauflage seiner Werke liegt an der 30-MiIlionen- Grcnze — zu den populärsten Autoren. Auch im Raketenzeitalter blüht noch die Wildererromantik. Davon zeugen nicht nur die gängigen Wildererromane, sondern auch der diverse Bilderschmuck im „trauten Heim”, mit dem tausendfach variierten Grundmotiv des „verfolgten Wilderers” als „zeitloses” Thema.

Anspruchslose Liebesgeschichten, Kriminalromane und utopische Schilderungen bilden in städtischem Milieu das Gegenstück zum Bauernroman. — Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die „Landser- Romane”, jene Kategorie von „Literatur”, die ziemlich monoton zwischen Kaserne, Schützengraben und Bordell spielt, bei deren Lektüre man Seite für Seite fortwährend die aufdrängende Tendenz zu spüren vermeint: „So war es — und nicht anders!” — Dazu gesellt sich jene gewisse Art von „Ganz-” und „Halbbettenromanen”, deren weiter Bogen sich in vielerlei Abstufungen von der „Borgia- Trilogie” bis „Bonjour tristesse” spannt, Bücher, die immer bei den Lesern „draußen” sind.

Die Fröhner-Umfrage gibt auch einige Aufschlüsse über das Leseinteresse. Romane der Weltliteratur — Hemingway, Dostojcwskij, Thpmas Mann, Tolstoj, Werfel, Steinbeck u. a. m. — werden von sechs Prozent gelesen, zeitproblematische und sozialkritische Werke interessieren bloß vier Prozent der Befragten.

In nicht wenigen Büchereien ist die Schuljugend als Lesergruppe mit mehr als 50 Prozent vertreten. Nach Schulaustritt jedoch muß ein allgemeines Nachlassen des Leseinteresses registriert werden.

Für die Leseerziehung der Jugend kommt in Österreich dem „Buchklub der Jugend” besondere Bedeutung zu. Dieser hat gegenwärtig mit rund 550.000 Mitgliedern mehr als zwei Drittel der Schuljugend erfaßt.

Jedes Mitglied erhält ein speziell auf die jeweilige Altersstufe abgestimmtes „Jahrbuch”, das vorwiegend Ausschnitte aus Jugendbüchern vermittelt. Der jeweilige Ausschnitt soll beim Schüler das Interesse für die Lektüre des betreffenden Buches wecken. Zugleich mit dem Jahrbuch und einer besonderen „Auswahlliste” erhält jedes Mitglied vier Berechtigungsscheine, von denen jeder einen um 25 Prozent verbilligten Buchkauf ermöglicht.

Eine der augenblicklich aktuellen Hauptaufgaben erblickt der Buchklub darin, in allen Schulklassen Österreichs sogenannte „Klassenbüchereien” einzurichten. Auf diese Weise soll auch bei Kindern, die in einem Elternhaus ohne Bücher aufwachsen, das Interesse für gute Lektüre geweckt werden. Man knüpft dabei an eine schon um die Jahrhundertwende von dem Leipziger Pädagogen Hugo Gaudig erhobene Forderung: Die Schule müsse Mittel und Wege finden, daß das Verhältnis des Schülers zum Buch nicht zu einem „Zwangsverhältnis” werde, dessen „drastischer Ausdruck die Armbewegung ist, die am letzten Schultag die Bücher in die Ecke befördert”. Man müsse die Schüler die Kunst lehren, Bücher als wichtigstes Mittel zur Selbstbildung zu betrachten und zu verwerten, sonst stehe der junge Mensch nach der Schulzeit Büchern hilflos und desinteressiert gegenüber. Eine Forderung. die auch nach 60 Jahren kaum etwas von ihrer Aktualität cingebüßt haben dürfte!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung