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Bahn durch den Berg

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Der Gebirgsdamm quer durch Europa bestimmte die Geschichte des Abendlandes, solange er stärker war als die Technik. Noch vor anderthalb Jahrhunderten bildeten die Alpen ein ärgerliches Hindernis für die Italienpolitik Napoleons, weshalb er — nach dem schwierigen Winterübergang über den großen St.-Bernhard-Paß — die Simplonstraße bauen ließ. Sie wurde am 25. September 1805 beendigt und dient heute noch als Uebergang, muß aber modernisiert werden. Der Autoverkehr von heute stellt höhere Ansprüche an die Straße, als einst die Geschütze.

Im Ausmaße, wie sich im vorigen Jahrhundert die Technik des Bahnbaues entwickelte, ertönte der Ruf nach einer auch im Winter gesicherten Durchfahrt durch den Simplon immer lauter. Der Tunnelbau sollte sich aber mühsamer erweisen, als angenommen wurde. Immer wieder wurden im Berginnern Quellen, teils mit Temperaturen bis zu 50 Grad, angebohrt, und das Wasser mußte abgeleitet werden. Auch konnte auf einer Strecke von nur 42 Metern das an jener Stelle gebrechliche Gestein dem Bergdruck nicht standhalten und anderthalb Jahre hat man benötigt, um dieses kurze Teilstück fertigzustellen. Insgesamt wurden vom ersten Spatenstich bis zum Stollendurchstich sieben Jahr und sechs Monat benötigt] ungefähr eine Million Raummeter Fels wurden in rund 7 Millionen Arbeitsstunden ausgebrochen und 280.000 Raummeter Mauerwerk errichtet. Im Durchschnitt waren während dieser Zeit täglich 3000 Arbeiter am Bau beschäftigt, 3,5 Millionen Bohrlöcher wurden in das Gestein getrieben und 1520 Tonnen Dynamit verwendet.

Die Länge des Tunnels wurde vor dem Bau mit 19.823 m berechnet (es sollte sich zeigen, daß man sich nur um 79 cm geirrt hatte). Um das Lüftungsproblem in diesem langen „Schlauch“ zu lösen, wurde zum ersten Male im Tunnelbau die Methode des Doppelstollens angewandt. Sie sollte sich glänzend bewähren, und es konnten täglich 3 Millionen Raummeter Frischluft in den Tunnel gepumpt werden. Hierdurch erst gelang es, die Arbeiter gegen das Befallenwerden mit dem Tunnelwurm zu schützen; zwei Jahrzehnte vorher, beim Bau des St.-Gott-hard-Tunnels, konnten diese sonderbaren Schmarotzer der Eingeweide noch 800 Arbeiter angreifen, und 20 Pferde verendeten monatlich aus dem gleichen Grunde.

Nun stand das Werk fertig da. Es ist bis heute das längste seiner Art auf der ganzen Welt (Gotthard 15.003 m, Arlberg 10.240 m) und liegt von allen Durchstichen der Alpenkette am tiefsten (705 m Seehöhe, gegenüber 1310 des Arlbergs). Seine größte Steigung beträgt 7 Promille, was recht günstig ist (im Mont-Cenis-Tunnel 2,2 Prozent!). Trotz der gebesserten Bohrtechnik verschlang der Bau weit mehr Geld als irgendein anderer Tunnel in Europa, nämlich insgesamt 112 Millionen Goldfranken, was 187 Millionen heutigen Franken, in Kaufkraft aber etwa dem Vier- bis Fünffachen diese? Betrages entspricht.

Der Tunnel gehört jetzt zwei Arten von Nutznießern — den Zügen und den Mäusen. Diese Tiere erwiesen sich den Menschen für dieses gigantische Gratismausloch, das überdies auch raubtierfrei ist, recht erkenntlich. Sie vertilgen gewissenhaft alle Abfälle, die aus den Zügen geworfen werden und verwenden das Papier zum Nestbau. Der Tunnel muß daher nie gesäubert werden und den Bundesbahnen ersparen die Tunnelmäuse jährlich 200.000 Franken. Es gibt im Simplontunnel noch eine zweite Art von Bewohnern, die Grillen, denen die ständige Temperatur von 28 bis 31 Grad sehr gut behagt. Ihre zirpende Begleitmusik bleibt allerdings unbemerkt — sie wird durch das Rattern der Räder übertönt.

Für Deutschland bedeutet die Simplonstrecke eine höchst wichtige Erleichterung des Warenverkehrs mit Italien, da sich der Verkehr auf der Gotthardstraße allein nicht abwickeln ließe; es müßte zum Teil .der lange Umweg über den Brenner benützt werden. Eine Verkürzung brachte aber die Simplonstrecke für Deutschland nicht, denn die Distanz Basel—Milano be-r trägt über den Gotthard 372 km, über den Simplon aber 381 km. Anders liegen die Verhältnisse gegenüber Frankreich, denn die Distanz Paris—Milano über den Simplon beträgt nur 828 km, über den Gotthard aber 907 km und über den Mont Cenis sogar 942 km. Die Schweiz zieht vor allem aus dem Transitverkehr

Nutzen, da die Kohlentransporte aus dem Ruhrgebiet nach der Lombardei zum größten Teil durch die Schweiz rollen.

Zur Eröffnung des Tunnels erschienen vor 50 Jahren in Brig König Viktor Emanuel III. von Italien und der gesamte Bundesrat aus Bern. In den Trinksprüchen fand sich seltsamerweise kein Hinweis auf die internationalen Perspektiven, die der Durchstich des Tunnels eröffnet hatte. Die Zeitungsberichte aus jenen Tagen wirken merkwürdig, denn sie hätten ebensogut im April 1956 in London abgefaßt werden können: die Journalisten beklagten sich über strömenden Regen und Kälte und über die äußerst strengen Kontroll- und Ordnungsmaßnahmen der Polizei, die in jedem Journalisten einen möglichen Attentäter erblickte. Allerdings waren es damals nur sechs Jahre seit der Ermordung des Vaters des italienischen Königs, Umberto I., her. Heuer haben sogar drei Staatsoberhäupter — allerdings kein einziger Herrscher — am Jubiläum teilgenommen. Dennoch zeigte die Bundespolizei weit weniger Nervosität als vor 50 Jahren.. Allerdings hatten weder Gronchi, noch Coty, noch Bundespräsident Markus Feldmann etwas von heute gar nicht mehr vorhandenen Anarchisten zu befürchten!

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