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Zwischen Octodurus und Aosta

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Am 19. März 1964 wurde die Durchfahrt durch den ersten Alpen-straßentunnel, der unter der Paßhöhe des Großen St. Bernhard den Schweizer Kanton Wallis mit der italienischen autonomen Region Aosta verbindet, für den allgemeinen Verkehr freigegeben.

Der erste Tag brachte eine reibungslose Abwicklung des Verkehrs. 1300 Fahrzeuge durchquerten an diesem Tag den Tunnel in beiden Richtungen. Die Verkehrsspitze wurde zwischen 15 und 16 Uhr mit 150 Fahrzeugen in beiden Richtungen festgestellt. Die Lüftungsanlagen funktionierten einwandfrei. Die Beleuchtung erwies sich als ausreichend. Beiderseits befinden sich in bestimmten Abständen größere Nischen, um Wagen eventuell abstellen zu können, ebenso sind Telephone in regelmäßigen Abständen angebracht, so daß ein Autofahrer jederzeit eventuell notwendig gewordene Hilfe herbeirufen kann. Die Zufahrten zum Tunnel, die durchweg in Galerien geführt sind, brauchten in diesem schneearmen Winter allerdings bisher keine größere Belastungsprobe zu bestehen. Das gilt besonders für die auf der italienischen Seite geführten Galerien, die beidseitig offen sind und von Betonsäulen getragen werden.

So sehr die unmittelbaren Zufahrten zum Tunnel des Großen Sankt Bernhard großzügig ausgebaut wurden — auf italienischer Seite beginnt der neue Straßenteil bei der letzten Dauersiedlung S. Rhemy, auf Schweizer Boden oberhalb Bourg St. Pierre — so sehr lassen die Anfahrtsstraßen zu wünschen übrig. Während auf der Schweizer Strecke, die in Martigny im Rhonetal beginnt, schon einiges getan wurde, Straßenverbreiterungen, Kurvenbe-gradigungen sowie Brückenbauten in Angriff genommen wurden, ist die Zufahrt auf der italienischen Seite, die in Aosta beginnt, nach wie vor eng, kurvenreich und unübersichtlich, was sich besonders bei schlechten Wetterverhältnissen und im Winter nachteilig auswirken dürfte. Hier werden die zuständigen Stellen bald darangehen müssen, für einen großzügigen Ausbau dieser Bergstraßen zu sorgen, soll der Tunnel des Großen St. Bernhard seinen Zweck erfüllen und dem Autofahrer zeitraubende Umwege ersparen.

In allen am Alpenraum beteiligten Ländern ist die Notwendigkeit, Straßenzüge, die den Alpenhauptkamm überqueren, durch den Bau von Straßentunnels ganzjährig befahrbar zu machen, höchst aktuell geworden. Aber nicht nur bisherige Paßstraßen sollen auf diese Weise verkehrsmäßig verbessert werden. In den Hohen Tauern wird zum Beispiel schon seit Jahren das Problem der Errichtung eines Straßentunnels zwischen Böckstein im obersten Gasteiner Tal und Mallnitz auf der Kärntner Seite des Tauernkammes diskutiert. Seit einigen Jahren ist man auch dabei, das Mont-BlancMassiv zu untertunneln und damit eine Straßenverbindung zwischen Frankreich und Italien herzustellen, die ganzjährig befahrbar ist und vor allem im Winter zeitraubende Umwege spart.

Etwa zur gleichen Zeit hat auch die Schweiz begonnen, zwei besonders wichtige Nord-Süd-Verbindungen durch Errichtung von Straßentunnels zu vereinfachen. Es sind dies der San Bernardino in Graubünden und der Große St. Bernhard zwischen dem Kanton Wallis und der italienischen autonomen Region Aosta. Während die Arbeiten am Bernardino noch im Gang sind, ist der Bau des Tunnels unter dem Großen St. Bernhard schon so weit fortgeschritten, daß seine Freigabe für den Verkehr im März dieses Jahres erfolgen konnte, wenn auch noch manches im Rohzustand ist. Der Große St. Bernhard, 2469 Meter hoch, zählt zu jenen Alpenpässen, die schon im Altertum bekannt waren. Im 11. Jahrhundert gründete der heilige Bernhard von Menton das berühmte Hospiz, dessen Mönche mit Hilfe der dort gezogenen Bernhardinerhunde durch Jahrhunderte hindurch in dieser unwirtlichen Hochgebirgslandschaft, die sehr oft von Reisenden durchzogen wurde, wahre Samariterdienste leisteten.

Insgesamt sind drei Straßenzüge über den Großen St. Bernhard zu verfolgen: einer, der noch aus der Römerzeit stammt, jener, den Napoleon herrichten ließ, und die heutige Autostraße. Mit Beginn der Motorisierung wurde die kurz vor 1900 fertiggestellte heutige Paßstraße, die nunmehr durch den Straßentunnel abgelöst wird, besonders interessant. Die gewaltige Zunahme des Autoverkehrs aber in den letzten Jahren ließ die Straße als nicht mehr geeignet erscheinen. Es gab nur eine Lösung, mit der zwei Schwierigkeiten auf einmal beseitigt werden konnten: den Bau eines Straßentunnels in etwa 1900 Meter Höhe. Damit war die ganzjährige Befahrbarkeit und gleichzeitig verkehrstechnische Sicherheit gegeben. Die Initiative ging von den Kantonen Waadt und Wallis sowie der Stadt Lausanne aus, die auch wirksame finanzielle Hilfe leisteten. Der Straßenzug beginnt auf Schweizer Seite beim Eisenbahn- und Straßenknotenpunkt Martigny im Wallis und führt im Tal der Dranse über Orsieres nach Bourg St. Pierre, der letzten ganzjährig bewohnten Ortschaft. Hier ist die Trasse aus jetzt schon verkehrstechnischen Gründen verlegt worden und führt, teilweise in Galerien, bis zum Tunneleingang bei der Cantine d'en Haut. Auf italienischem Boden ist der Ausgangspunkt die berühmte Bergsteigerstadt Aosta. Auch hier mußte die alte Trasse umgelegt werden. Man vermied im oberen Teil zahlreiche enge und unübersichtliche Kurven und ist in einer einzigen großen Schleife bis zum Tunneleingang gekommen. Größere Strek-ken werden zum Schutz gegen Lawinen und dergleichen in offenen Galerien geführt.

Der Tunnel selbst ist genau 5855 Meter lang, seine lichte Höhe beträgt 4,50 Meter, die Gesamtbreite 9,30 Meter, wovon 7,50 Meter Fahrbahn sind. Außer dem Ventilationskanal wurde auch die Erdölleitung untergebracht, die von Genua aus zur künftigen Rafflnerei in Collom-bey (Wallis) führt.

Die Belüftung des Tunnels erfolgt in folgender Weise: am Nordeingang wurde eine Anlage zum Absaugen der verbrauchten Luft, am Südportal eine solche zur Zuführung von Frischluft errichtet. Etwa in der Mitte des Tunnels, gleichzeitig am höchsten Punkt, führt ein Luftschacht mit einem Querschnitt von 17,5 Quadratmetern 358 Meter hoch senkrecht ins Freie. Durch diesen Kamin entweicht ebenfalls die verbrauchte Luft. Zwischen diesem Kamin und dem Nordportal befindet sich eine Röhre mit einem Durchmesser von 4,5 Meter und 170 Meter Höhe, die wiederum Frischluft hereinbringt. Die Fahrbahnsteigung beträgt vom Nordeingang bis zum höchsten Punkt 3 Promille auf 2935 Meter Länge, von dort besteht bis zum italienischen Ausgang ein Gefälle von 1,69 Prozent auf 2920 Meter.

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