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Unerträgliche Blechlawine

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„Hier möchte ich auch nicht wohnen!“ sagte Verkehrsminister Rudolf Streicher während der ORF-Sendung „Argumente“ am 9. März 1988 in Innsbruck, als es um die Lebensqualität in Teilen von Österreichs Fremdenverkehrsland Nr. 1 ging. Er muß auch

nicht da leben. Tausende Personen im Inntal wie im Wipptal waren vor der Autobahn da. Sie haben da ihr Haus, ihre Felder und Wälder.

Sie begrüßten am Beginn der sechziger Jahre die neue Straße begeistert, weil sie Erlösung von nicht mehr tragbaren Zuständen versprach: einen halben Tag Fahrzeit von Innsbruck nach Kufstein, mehrere Stunden von Innsbruck auf den Brenner, total verstopfte Orte (wie Wörgl, Rattenberg, Schwaz, Hall, Steinach, Matrei) mit nie abreißenden Au-toschlangen. Eine Stunde Wartezeit, um mit einem Heuwagen die Straße zu überqueren; oder mit einem Kinderwagen...

In jener Zeit, so um 1960, gab es so gut wie keinen grenzüberschreitenden Güterverkehr auf der Straße. Wer Waren von einem Land in das andere zu liefern hatte, benützte dafür wie selbstverständlich die gute alte Eisenbahn (siehe Graphik). Erst mit dem Bau der Autobahnen explodierte der Straßengütertransit.

Heute fahren auf der Straße über den Brenner im Transit 22mal mehr Güter als durch die gesamte Schweiz. Und das nicht nur, weü es auf dieser Route quer durch Tirol so gut wie keine Gewichts- und Geschwindigkeitskontrollen gibt oder weil die Mautkarte für Lastkraftwagen im 100er Block einem Sozialtarif gleicht — sondern weil der Brenner der weitaus niedrigste Alpenübergang auf viele hundert Kilometer ist, der schon deshalb weite Umwege lohnt.

Wer die Abbildung 1 — wie die meisten Daten zu diesem Artikel den hervorragenden Wald-zustandsberichten der Tiroler Landesregierung entnommen — genauer anschaut, fragt sich natürlich, warum der Güterverkehr dermaßen zugenommen hat. Warum wuchs die Lust, Waren hin und her zu führen, so dramatisch?

Davon ist fast nie öffentlich die Rede, aber hinter vorgehaltener Hand sagt es jeder in Tirol: ein Großteü des Transitverkehrs wird nur durchgeführt, um sich auf legalem oder illegalem Weg Ausfuhrrückvergütungen oder Erstattungen (aus EG-Töpfen oder sonstwo) zu erschleichen.

Ein Beispiel: führt jemand einen Fernlastzug voll mit schnittigen italienischen Autos von Mailand nach München und meldet sie dort an, dann erhält er vom Staat Italien eine saftige Exportprämie. Nach drei Tagen meldet er die Autos in München wieder ab, fährt mit ihnen zurück und versucht sie nun in Italien zu verkaufen.

Dem Käufer ist es egal, daß sein Auto in München auf Kurzurlaub war. Der Gewinn für den Händler ist beträchtlich. Zwei Fernfahrten von einer Million durch Tirol sind damit erklärt. Es gibt auch genü-

gend belegbare Beispiele für üle-gal erschlichene Fahrten durch das „Herz der Alpen“ (so die Tiroler Fremdenverkehrswerbung). Da ich nicht will, daß mir jene, die sich daran krumm verdienen, die Zunge abschneiden, verzichte ich auf Details.

Dazu kommen noch ungezählte legale, aber an sich ganz sinnlose Transporte, die nur deshalb durchgeführt werden, weil der Ferntransport so gut wie nichts kostet. All diese Fahrten verstopfen die Straßen und bringen den Bürger auch gegen jene paar Fahrten auf, die gut und sinnvoll sind, die dann leicht Platz hätten, und die auch von einer besser organisierten Eisenbahn nicht alle übernommen werden müßten.

Bei der eingangs zitierten ORF-Sendung blieb ein wenig der Gesamteindruck übrig, die Bürger an Inn und Sill seien vor allem deshalb gegen den Transitverkehr in der derzeitigen Form (rund eine Million Fernlaster im Jahr, über 5.000 an Spitzentagen), weil sie ihre Ruhe haben wollten. Sie werden damit bei Bewohnern des Wiener Gürtels nicht viel Anklang gefunden haben.

In Wahrheit geht es um viel mehr: Es besteht unter Fachleuten kein Zweifel darüber, daß, bei Anhalten der Belastung im Ausmaß der achtziger Jahre, die Böden, die Bäume, die Quellen und zuletzt die Menschen in diesen beiden Tälern und in ihren Seitentälern schweren Schaden nehmen.

Wenn die Wälder und Böden (lange vor den Menschen) abgestorben sind, ist die Bewohnbarkeit dieser Regionen nicht mehr gegeben. Das ist keine Übertreibung. Tirol hatte 1987 als einziges Bundesland eine weitere Verschlechterung seines Waldzustandes. Entlang der Brennerautobahn sterben die Bäume an der Salzung — eine Tonne je Lauf meter seit dem Bau! Die Quellen sind großteils schon unbenutzbar. Die Kinder husten mehr als anderswo.

Was ist zu tun? Es ist diese Entwicklung zunächst einmal klar als Irrweg zu bezeichnen. Der Tiroler Handelskammer stehen ein paar Transportfirmen derzeit noch näher als Tausende Fremdenverkehrsbetriebe.

Es hat von den Regierenden in Land und Bund festgestellt zu werden, daß Tirol das alles ganz einfach nicht mehr ertragen kann. Es kann dabei nicht auf das Wohlwollen der Brüsseler Wirtschaftsstrategen Rücksicht genommen werden.

Es hat alles zur raschen Modernisierung der Bahn zu geschehen. Die Lahmheit der ÖBB und gar die der italienischen Staatsbahnen ist für jeden Steuerzahler nur sehr schwer ertragbar.

Wenn das Land ein tägliches Limit von 2.000 Fernlastern verfügt, dann werden die Regierung nördlich und südlich damit gezwungen, die illegalen und die überflüssigen Fahrten auszuscheiden. Wenn wir uns weiterhin alles gefallen lassen, fällt denen auch nichts ein. Und unser Land geht zugrunde!

Der Verfasser ist Vorsitzender des Naturschutzbeirates der Tiroler Landesregierung und Forstreferent in der Tiroler Landwirtschaftskammer.

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