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Baumeister Fluß

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Galilei hat vor mehr als dreihundert Jahren den Ausspruch getan, daß die Gesetze des gestirnten Himmels leichter zu lösen wären als die des -fließenden Wassers, und er hat damit bis heute recht behalten. Obwohl die Flußkunde eifrig von Geographen, Geologen und neuerdings besonders von Technikern betrieben wird, vermag sie zum Beispiel noch nicht die Entwicklung eines Flußlaufes vorherzubestimmen, während doch Vorausberechnungen für Gestirne in der Astronomie kaum mehr ein Problem darstellen. Die Fragen des fließenden Wassers und der sogenannten Erosion sind noch unzureichend geklärt.

Gewöhnlich stellt das Längsprofil eines Flusses eine sich mündungwärts verjüngende Kurve dar. Diese hat nach der in der Geographie herrschenden Auffassung von P h i 1 i-p p s o n ihre Formung im Zusammenhang mit der zunehmenden Wassermenge gefunden, so daß zwischen Wassermasse und Gefälie — gleiches Gestein vorausgesetzt — ein gewissermaßen umgekehrtes Verhältnis ausgebildet sein soll. Durch Vermessung von Erosionsrinnen in den ostpersischen Wüsten konnte ich jedoch nachweisen, daß diese Auffassung irrig ist; denn auch dort, wo sich die Wassermenge offenkundig stromabwärts verringert, verlaufen die Flußprofile konkav wie bei uns und nicht konvex, wie es die genannte Theorie verlangt.

Eine andere, vornehmlich von den Technikern ausgebildete Lehre besagt in großen Zügen, daß sich das Gefälle des Flusses gemäß der Geröllgröße im Bette aufbaue, indem sich bei grobem Geröll ein steiles und bei feinem ein flaches Gefälle ergebe. Wie ich kürzlich in einer Fachsitzung der Geographischen Gesellschaft ausführen konnte, besteht diese Beziehung zweifellos zu Recht — nur mit der Einschränkung, daß Ursache und Wirkung verwechselt wurden. Natürlich beeinflußt der Bettbelag die Strömungsgeschwindigkeit, von der a 11 e i n es jedoch abhängt, ob feines oder grobes Geroll abgelagert wird. Transportiert der

Fluß sein Geröll über anstehenden Fels — bei Hochwasser eine häufige Erscheinung —, so würde ja diese Theorie völlig ihre Basis verlieren.

Auf einer schiefen Ebene abgleitende Gegenstände weisen gemeinhin eine Beschleunigung der Bewegung auf. Der Fluß zeigt eine solche nur an wenigen Stellen seines Oberstlaufes und an vereinzelten kurzen konvexen Gefällsstrecken, Wäre dem nicht so, würde also die Wucht des abfließenden Wassers entsprechend den Gesetzen der schiefen Ebene anwachsen, so wäre ein Großteil unserer Erde wegen unvorstellbarer Überschwemmungskatastrophen unbewohnbar. Das Abbremsen der Fließkraft erfolgt durch deren eigene Arbeitsleistung, das heißt das vom Fluß erodierte Gesteinsmaterial bewirkt — sei es durch Reibung, sei es durch Transport —, daß eine Beschleunigung verhindert wird. Es ist demnach so eingerichtet, daß die Kraft, die der Fluß durch seine Wassermasse und Geschwindigkeit erzeugt, so groß ist wie ihr mit der Härte des Gesteins stark wechselnder Widerstand. Daraus ergibt sich die überraschende Schlußfolgerung, daß die Kraft des Flusses und somit d i e Ausbildung seines Gefälles von dem Widerstand abhängt. Ist dieser in hartem Gestein mächtig, so finden wir ein Steilgefälle mit großer Energie, während sich in weichem Gestein ein flacheres Gefälle mit geringerer Energie entwickelt. Wenngleich dieser Prozeß sich in oft komplexen und recht verwickelten Vorgängen vollzieht, so kommt er doch stets einsichtig zu dem genannten klaren Ergebnis. Damit stellt sich der Fluß uns als eine Idealmaschine dar, die jeweils so viel Kraft erzeugt, als sie zur Bewältigung ihrer Aufgabe benötigt.

Diese Aufgabe heißt Transport des Gerölls, Die sich dabei im Fluß abspielenden Vorgänge überraschen durch eine kaum zu überbietende Zweckmäßigkeit. Da auf Erosionsstrecken der zu transportierende Abraum durch den Zuwachs immer größer werden muß, fragt man sich oft staunend, wie denn dieses Wegschaffen geleistet werden kann, da doch bei gleichbleibender oder manchmal gar geringer werdender Wassermasse infolge der nachlassenden Strömung die Kraft abnimmt. Abgesehen davon, daß normalerweise stromabwärts die Unterlage weniger Reibung bietet, verkleinern und glätten sich ja die Gerolle im fließenden Wasser mehr und mehr durch ihre Bewegung. Nachdem nun der Abriebstaub als Schweb in Eilfracht leicht entfernt worden ist, verlangt die Beförderung der leichter gewordenen Gerolle nicht mehr so viel Kraft.

Immerhin wiegt diese Kraftersparnis allein noch nicht den Energieverlust durch die Gefällsvcrringerung auf, Wie bei allen Körpern, benötigt auch im Flußbett das Inbewegungsetzen (die Erosion) der Materie weit mehr Kraft als ihr In-bewegunghalten (der Transport). Auf den meisten Strecken des Flußlaufes vollziehen sich beide Leistungen gleichzeitig und nebeneinander, indem zum Beispiel bei nachlassender Geschwindigkeit größere Gerolle abgelagert und dafür kleinere neu in Bewegung gesetzt werden. In dieser Art verändert der Geröllstrom dauernd seine Struktur und benötigt, da die größeren Stücke durch transportablere kleinere ersetzt werden, für den Abtransport immer weniger Kraft. Was noch liegenbleiben muß, wird durch Abschliff, durch mechanische und chemische Wirkung des Wassers so lange bearbeitet, bi3 es, zumal bei Hochwasser, doch in Bewegung gesetzt werden kann.

Wie sich nun interessant beobachten läßt, ist das Verhältnis zwischen den obengenannten Erosions- und Transportkräften nicht gleich, sondern jeweils so gestaltet, daß die optimale Transport-leistung erzielt werden kann. Bei hohen Wassergeschwindigkeiten zum Beispiel besteht ein großer Unterschied zwischen der Erosions- und Transportgeschwindigkeit. Das bedingt, daß selbst bei starkem Hochwasser im obersten Flußlauf nur verhältnismäßig kleine Bestandteile in Bewegung gesetzt werden, die dann aber recht weit wandern können. Die häufig zu beobachtenden großen Blöcke dagegen sind entweder von den Ufern herabgefallen oder „herauspräpariert“ worden. Würde dieses Verhältnis nicht bestehen, so müßten große, sperrige Blöcke ja den Abtransport stören. Bei kleineren Wassergeschwindigkeiten weiter stromab jedoch ist der Unterschied gering, und dadurch können sich verhältnismäßig größere Bestandteile in Bewegung setzen. So tritt der anscheinend paradoxe Fall ein, daß die Menge, die erodiert, das heißt in Bewegung gesetzt wird, bei geringen Gefällswinkeln im Unterlauf normalerweise größer ist als auf gleichlangen Strecken bei hohen Gefällswinkeln im Oberlauf — insonderheit dann, wenn der Fluß im Oberlauf die Bestandteile mühsam und langwierig aus dem Fels erarbeiten muß, inj Unterlauf jedoch Immer genügend transportables Material vorfindet. Das Hopkinsche Gesetz (eines der wenigen, das eine Beziehung in der sechsten Potenz kennt) besagt zwar, daß der Gerölltransport der wachsenden Wassergeschwindigkeit in sechsfacher Potenz entspreche: doch gilt es eben nur dann, wenn wirklich transportables Geröll vorhanden ist, und nicht anders als der Kaiser hat es sein Recht verloren, wenn das Material erst erarbeitet werden muß.

Nur so kann also mit abnehmender Kraft eine zunehmende Geröllmenge befördert werden. Bei den allergeringsten Geschwindigkeiten scheiden aus dem Schweb des Wassers die kolloiden Bestandteile aus, wobei besonders interessant zu beobachten ist, daß diese Kleinstbestandteile von 0,002 mm Durchmesser der Kohäsion wegen dieselbe höhe Erosionsgeschwindigkeit verlangen wie Gerolle von einem zehntausendmal so großen Durchmesser. Da eine solche Geschwindigkeit kaum erwartet werden kann, vermag der Unterstlauf des Flusses oft sein Gefälle zu erhöhen und damit den Abtransport zu beschleunigen. Diese Erhöhung findet ihre Grenze dort, wo die Wassergeschwindigkeit derart gesteigert ist, daß der feinste Schwebniederschlag nicht mehr erfolgen kann. Würde die

Erosionsgeschwindigkeit nicht ansteigen und die flachste Unterststrecke der Flüsse demnach der Ausräumung in gleichem Maße ausgesetzt sein, so müßte eine weitere Verflachung ja die ärgsten Transportkrisen heraufbeschwören. Wie auf den letzten Strecken des Unterlaufes finden wir auch auf den meisten anderen diese bewundernswerte automatische Geschwindigkeitsregulierung. Sobald die Kraft des Flusses zum Abtransport des Gerölls nicht mehr ausreicht, werden der Antransport und die Neuförderung von Material abgestoppt, womit sich wiederum der Gefällswinkel und damit die Geschwindigkeit des Weg-beförderns vergrößern. Im anderen Fall, wenn die Kraft des Flusses beschleunigt anwächst, ist es dem Wasser gestattet, ohne Behinderung zu erodieren, womit sich jedoch der Gefällswinkel und die Geschwindigkeit des Abtransports verringern. So richtet sich also die Kraft entsprechend dem Widerstand ein. Der normale Zustand der Ausgeglichenheit ist dadurch gegeben, daß die Kraft des Fließens im gleichen Maße abnimmt, wie die Verfrachtung des Gerölls erleichtert wird.

Diese höchst rationellen Einrichtungen und viele andere, auf die wir hier nicht eingehen konnten, lassen durch ihre intensive, sinnvolle Verflechtung den Flußlauf fast als etwas Organhaftes erscheinen. Die dem Bett geschlagenen „Wunden“ heilen wieder zu, und Verlegungen und Entwicklungen im Lauf sind — wenn überhaupt — nur mit dem größten technischen Aufwand zu beeinflussen. Angesichts solcher Leistungen von höchster Einsicht und Vernunft möchte man fast von einer Entelechie des Materiellen sprechen, wenn man nicht wüßte, daß selbst bei der physischen Materie jedes Problem, das bis zum letzten Ende durchgedacht wird, in die Philosophie überleitet.

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