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Sicherheitsfaktor Forschung

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Jeder aufmerksame Zeitungsleser weiß, daß sich die Debatte um die Kernenergie in den letzten Monaten mehr und mehr auf die Frage der Abfallbeseitigung zugespitzt hat. Die Gegner der Kernenergie sprechen heute fast nur noch über Wiederaufbereitung und Endlagerung, und je sachkundiger sie sind, umso konsequenter machen sie einen großen Bogen um die Frage der eigentlichen technischen Reaktorsicherheit. Damit ist das Zentralproblem von einst an den Rand gerückt.

Der Grund dafür: Das Kernkraftwerk selbst, der Druckwasser- oder Siedewasserreaktor, hat einen so hohen Sicherheitsstandard erreicht, daß er heute als das stärkste Glied in der ganzen Kette von der Urangewinnung bis zur Endlagerung bezeichnet werden kann. Der Kraftwerksbetrieb ist heute mit einem so geringen Risiko verbunden, daß man es bei einem Kraftwerk wie in Zwentendorf als nicht vorhanden bezeichnen kann. (Wir reden hier aber nicht vom „schnellen Brüter“!)

Daß der Kraftwerksbetrieb heute einen solchen Sicherheitsstand erreicht hat, kann aber keineswegs nur dem privatwirtschaftlichen Verantwortungsbewußtsein jener Firmen gutgeschrieben werden, die Kernkraftwerke planen und errichten. Vielmehr ist dies in hohem Maß Resultat der von öffentlichen Stellen betriebenen Forschung mit öffentlichen Mitteln - und zwar auf internationaler Basis.

Eine der Forschungsstätten, deren Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur atomaren Risikoverminderung darstellt, konnten wir vor kurzem besuchen: Das Zentralbüro für Kernmessungen“ in dem belgischen Städtchen Geel. Auf Grund des Euratom-Vertrages vom 25. März 1957 wurden vier Forschungsstätten eingerichtet, die im JRC (Joint Research Center) zusammengefaßt sind. Das JRC beschäftigt 2340 Personen, unter ihnen 1125 Akademiker und Techniker mit hochqualifizierter Ausbildung.

Die vier Forschungsstätten sind auf vier europäische Länder aufgeteilt. Das größte der Institute mit der größten Palette von Aufgaben (von der Re-aktorentwicklung über Materialuntersuchungen bis zur Erforschung neuer Energiequellen) ist in Ispra in Italien zu Hause, hier arbeiten 1700 Personen (darunter 800 hochqualifizierte Mitarbeiter) in 251 Gebäuden auf einem Gelände von sechs Kilometer Länge. In Karlsruhe, in direkter Nachbarschaft des deutschen Kernforschungszentrums, werden die Transurane erforscht, im niederländischen Petten wurde an der Entwicklung des Hochfluß-Forschungsreaktors gearbeitet und sind in den letzten Jahren Forschungen über Materialverhalten bei hohen Temperaturen und eine Reihe anderer Projekte in Gang.

In den JRC-Anlagen von Geel arbeiten 200 Menschen, darunter 120 Akademiker und hochqualifizierte Techniker, an einer Fülle von Aufgaben, von denen wir hier nur einige wenige herausgreifen wollen. So zum Beispiel werden auch in Geel Untersuchungen über das Verhalten verschiedener Materialien unter dem Einfluß intensiver Neutronenbestrahlung durchgeführt. Im Reaktor eines Kernkraftwerkes oder einem Forschungsreaktor hefern die Brennelemente den Neutronenfluß, der auf die Dauer jedes Material verändert. In Geel steht kein Reaktor zur Verfügung, vielmehr erzeugen hier zwei Teilchenbeschleuniger, ein Van de Graaff-Accelerator und ein Li-near-Accelerator, genauest dosierbare Neutronenflüsse hoher Intensität

Im Kernreaktor entstammen die energiereichen Neutronen den zerfallenden Uran-Atomen in den Beschleunigern werden Neutronen mit hohem Energieaufwand auf Tempo gebracht Der Linearbeschleuniger ist eine besonders eindrucksvolle Anlage: Die „Rennstrecken“, luftleer gepumpte Röhren, in denen der Neutronenstrom durch Elektromagneten seine Endgeschwindigkeit erreicht sind bis zu 400 Meter lang und im bewaldeten Gelände als sternförmiges System von Schneisen deutlich erkennbar.

Einer Aufgabe von höchster Bedeutung obliegt die Massenspektromet-rie-Gruppe von Geel: Die Entwicklung von Testprogrammen, die dann - an vielen Stellen der europäischen Gemeinschaft - als „Referenzstandard“ der routinemäßigen Uberprüfung von Proben radioaktiven Materials auf Grund der Römischen Verträge zugrundegelegt werden. Bekanntlich kann durch die massenspektrometri-sche Untersuchung einer Uranprobe aus einem abgebrannten (oder auch einem „angebrauchten“) Brennelement mit Sicherheit festgestellt werden, ob das Uran „vorschriftsgemäß“ das heißt nicht etwa für die Herstellung von müitärisch verwendbarem Kernbrennstoff, verwendet wurde. Dazu bedarf es aber entsprechender Eich- und Toleranzwerte. Diese werden von Geel geliefert - die Kontrollen des umlaufenden Materials hingegen erfolgen in den Laboratorien der Europäischen Kommission.

Die Forscher in Geel selbst verstehen sich daher nicht als Atompolizei und sind diskret - was dem Vernehmen nach dann und wann dazu führen soll, daß ihnen eine „verdächtige“ Materialprobe aus dem einen öder anderen außereuropäischen Land zugespielt wird. Und daß sie „ahnen“, ob das eine oder andere afrikanische oder sonstige Land vielleicht schon zum Zusammenbau einer Atombombe fähig sein'könnte - was sie aber, wie sie energisch betonen, selbstverständlich für sich behalten.

Eine bereits traditionelle Dienstleistung der Laboratorien in Geel, die nicht nur den nationalen Laboratorien der Mitgliedsstaaten, sondern auch Universitäten, anderen Kernforschungslaboratorien und industriellen Anwendern zur Verfügung steht, ist die Lieferung von radioaktiven Eichproben, beispielsweise in Form dünner, aufgedampfter Schichten, und die Herstellung von'nichtnuklearen Referenzmaterialien. Beispielsweise Kupferproben mit genau angegebenen und garantierten Spuren von Edelmetallen. Für diesen Zweck gibt es unter anderem eine Anlage zur Herstellung von Proben im Hochfre-quenz-Schwebeschmelzverfähren: Die Probe wird nicht nur im Vakuum, sondern außerdem ohne Kontakt mit einem Tiegel oder einem sonstigen Material hergestellt Sie schwebt nämlich, von der Einbringung im kalten Zustand bis zum Abfließen in heller Weißglut, im magnetischen Feld einer Metallspirale.

Ein Rundgang durch die Laboratorien von Geel bedeutet nicht nur Bekanntschaft mit den hochgezüchtetsten Geräten moderner Analysetechnik, sondern gibt vor allem auch einen Begriff vom Verlust der Anschaulichkeit in den modernen Naturwissenschaften. Denn die heute mögliche Meßgenauigkeit wurde vor allem durch die Ausschaltung des wägenden, zählenden und messenden Menschen und durch die Automatisierung der Prozesse des Wägens, Zählens und Messens erzielt

Noch beschicken Menschen die Geräte. Alles weitere macht der Apparat. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Ein Computerausdruck, eine lange Kolonne von Zahlen. Damit gleicht - soweit mit Händen greifbar - das Resultat einer massenspektrometrischenv Untersuchung genau dem, was bei einem Versuch mit dem Linearbeschleuniger eine auf mehrere Räume aufgeteilte Batterie elektronischer Meßgeräte in Sekundenbruchteüen ermittelt: Eine Zahlenkolonne.

Und es ist vielleicht der Verlust der Anschaulichkeit, was die moderne Physik und ihre in Krieg und Frieden gezeugten Kinder, die Atombomben und Kernkraftwerke, für viele Menschen so unheimlich macht Und die vielzitierte „Informationslücke“ zwischen denen, die politische Entscheidungen zu treffen haben ob als Wähler oder als Gewählte, und denen, von denen man sich die Entscheidungsgrundlagen erwartet, ist keine quantitative, sondern eine qualitative. Der Politiker und der Wähler - sie spre-' chen immerhin eine gemeinsame Sprache. Was ihnen beiden den „Fachmann“, den „Experten“, so unheimlich macht, ist dessen grundsätzlich andere Sprache.

Denn er ist es, der immer weniger mit Worten zu sagen weiß - und immer mehr die Zahl zu seinem Kommunikationsmittel macht. Auch in Sicherheitsfragen. Er lebt, als Physiker, vielleicht Jahr und Tag neben einem Ding, das theoretisch in die Luft gehen kann, ohne Angst um sich und seine Kinder zu haben - die Feststellung, das Ding könne nicht in die Luft gehen, wird ihm trotzdem niemand entlocken. Er sagt: Die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe beträgt x hoch minus x Prozent. Der Laie versteht darunter: nicht unmöglich...

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