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Skandal um Stoff für die Bombe

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Äußerst verwirrend ist die Berichterstattung über den deutschen Atomskandal. DIE FURCHE versucht, den Fragenkomplex genauer aufzugliedern.

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Äußerst verwirrend ist die Berichterstattung über den deutschen Atomskandal. DIE FURCHE versucht, den Fragenkomplex genauer aufzugliedern.

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Wer sind die vom Skandal Betroffenen?

In Hanau, 20 Kilometer von Frankfurt entfernt im deutschen Bundesstaat Hessen, ist die Firmengruppe „Nukem'7 „Alkem“ beheimatet. Sie versteht sich als „Zentrum des bundesdeutschen Kernbrennstoffkreislaufs“ (Eigenwerbung). Hauptaufgabe dieser Firmengruppe ist die Versorgung der deutschen Atomwirtschaft mit Kernbrennstoff. 80 Prozent davon wird in Hanau erzeugt.

Nukem wurde 1960 gegründet und beschäftigt 880, die gesamte Firmengruppe etwa 2.600 Mitarbeiter. Sie ist über Beteiligungen mit der Atomindustrie von Belgien, Luxemburg, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und den USA verflochten.

Eine Tochter der Firmengruppe, „Transnuklear“, ist für die Transporte von radioaktivem Material zuständig. Jährlich werden in Deutschland etwa 400.000 Transporte von strahlendem Material durchgeführt, von denen rund 46.000 die deutsche Grenze überschreiten.

Wieso kommt es zu diesen zahlreichen Transporten?

In der BRD produzieren 21 Atomkraftwerke (AKW) rund 20.000 Megawatt Strom. Sie müssen mit Brennstäben versorgt werden. Diese enthalten 97 Prozent schwer spaltbares Uran 238 und drei Prozent des leicht spaltbaren Uran 235, des eigentlichen Kernbrennstoffes. Während letzteres durch Kettenreaktion atomare Energie erzeugt, „brütet“ das Uran 238 den äußerst giftigen „Bombenstoff“ Plutonium aus.

Sind die Brennstäbe abgebrannt (300 Tonnen jährlich in der BRD), werden sie in Wasserbek-ken innerhalb des Kraftwerks zunächst zwischengelagert, bis die erste kurzlebige starke Radioaktivität abgeklungen ist.

Dann werden sie abtransportiert: entweder in ein besonders eingerichtetes Zwischenlager (nach Gorleben in Niedersachsen oder ins schwedische Oskars-hamn) oder zur Wiederaufbereitung (bis zur Inbetriebnahme des bayerischen Wackersdorf ins französische La Hague oder ins englische Sellafield).

Es fällt aber auch schwach verseuchter Atommüll an: Filtereinsätze, Handschuhe, Overalls, Reinigungsmittel ... All das ergibt einen strahlenden Müllberg von 40.000 Kubikmetern. Dieser wird vor allem im belgischen Mol (bei Antwerpen) für die Lagerung vorbereitet: verbrannt, entwässert und komprimiert, um sein Volumen zu verringern.

Nach der Behandlung gelangt das Material nach Deutschland zurück. 80 Prozent der Transporte besorgte Transnuklear.

Wozu dient die Wiederaufbereitung?

Dieses Verfahren trennt das in den ausgebrannten Brennstäben enthaltene spaltbare Material (Uran 235 und Plutonium) von den übrigen hochradioaktiven Spaltprodukten. Es ist äußerst gefährlich und unfallträchtig (FURCHE 19/1986). Aus dem spaltbaren Material Uran und Plutonium können Mischoxid-Brennelemente hergestellt werden, die schon in einigen Kernkraftwerken Verwendung finden. Dieses Material eignet sich aber auch zur Herstellung von Atomwaffen.

Die übrigen hochradioaktiven Spaltprodukte werden volumensmäßig verringert und in Glas eingeschmolzen, um so endgelagert zu werden. Problematisch ist die hohe Wärme, die diese Blöcke über Jahrhunderte hinweg abstrahlen. Weltweit gibt es kein einziges geeignetes Endlager für sie. (FURCHE 6/1987)

Was ist vorgefallen? Was wird vermutet?

Rund 2.500 Fässer mit radioaktivem Inhalt wurden unter falscher Etikette verfrachtet. 2.000 kamen von Mol nach Deutschland und mindestens 321 von ihnen enthielten neben schwach oder mittelstark strahlender Atomasche Kobalt und Plutonium, was nicht vermerkt worden war.

In die Gegenrichtung wiederum liefen Hunderte von Transporten, deren Ladung stärker strahlte; als die Papiere aussagten. Von einer großen Zahl von Fässern fehlt jede Spur.

Der Aussage eines Informanten aus der Unternehmensgruppe zufolge sei es auch zur Verschiebung von spaltbarem Material nach Libyen und Pakistan gekommen. Dieser Verdacht wurde vom deutschen Umweltminister Klaus Töpfer öffentlich bestätigt.

Wird nicht ohnedies alles laufend kontrolliert?

Wegen des enormen Sicherheitsrisikos und wegen der Möglichkeit der Abzweigung von spaltbarem Material für die Herstellung von Atomwaffen unterliegt die Handhabung in der Atomwirtschaft zahlreichen Kontrollen.

Die Überwachung des Verbleibs von spaltbarem Material obliegt in Deutschland den beiden Internationalen Organisationen „Euratom“ und der Internationalen Atombehörde (IAEA) in Wien. Letztere überwacht die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrags.

Er verpflichtet Länder mit Atomwaffen, diese nicht weiterzugeben und alle übrigen Länder, auf Atomwaffen zu verzichten und kritisches Material nicht weiterzugeben.

Auch innerstaatlich sorgt ein im internationalen Vergleich beachtliches System von Kontrollen, Bewilligungsverfahren und Uberprüfungen für die Einhaltung der deutschen Sicherheitsvorschriften.

Wie kam es dann zu solchen Pannen?

Da ist zunächst die Unmöglichkeit, ein wirklich perfektes Kontrollsystem einzurichten und funktionsfähig zu erhalten. Man denke nur an die Zahl von 400.000 Transporten. Wer soll da jeden einzelnen genehmigten Vorgang kontrollieren?

Und gleiches gilt für die IAEA-Uberwachung: Ein- bis zweimal jährlich wird buchmäßig nachgeprüft, ob tatsächlicher und buchmäßig festgehaltener Bestand an spaltbarem Material übereinstimmen. 250 IAEA-Mitarbeiter überprüfen 910 Anlagen in den 96 Ländern.

Aber von ausreichender Uber-wachung ist dennoch keine Rede: Ein interner IAEA-Bericht (Spiegel 3/1988) bestätigt, daß der Organisation im März 1987 etwa 70 Atombomben-Äquivalente „abhanden“ gekommen waren.

Solches wird zwar jetzt publik, ist aber nicht neu: 1981 bestätigte Emmanuel Morgan, was Roger Richter (beide Inspektoren bei der IAEA) vor dem US-Senat ausgesagt hatte. Man sei „unfähig, die Abzweigung einer signifikanten Menge spaltbaren Materials (acht Kilo Plutonium oder 25 Kilo Uran reichen für eine Atombombe) in Ländern mit einer halbwegs wirksamen Kernkraftwirtschaft zu erkennen.“

Sprachschwierigkeiten, Mangel an Zeit für Inspektionen, Ausschluß der Inspektoren von bestimmten Anlagebereichen seien wichtige Gründe dafür. Siegel könnten nachgemacht werden, und Kontrollkameras fallen aus.

Daraus wird schon ersichtlich, wie sehr es auf die redliche Kooperation aller Beteiligten bei diesem Geschehen ankommt.

Die Verantwortlichen sind diesbezüglich sehr zuversichtlich, etwa John Jennekens, der Leiter der Sicherheitskontrollabteilung der IAEA: Zwar gebe es Probleme, aber er vertraue darauf, daß die Mitgliedsländer richtige Angaben machen.

Wie begründet solches Vertrauen im Fall Transnuklear ist, zeigen die 150 Millionen Schilling, die im Zuge der Vorkommnisse in Deutschland — das zweifellos keine Reputation besonderer Korruptheit hat — an Schmiergeldern eingesetzt worden sind.

Die Versuchung zu irregulärem Handeln ist sicher groß, wächst doch die Menge von strahlendem Material bei ungelöster Endlagerung. Abfall billig verschwinden zu lassen, ist da nicht uninteressant. Auch wird die Nachfrage finanziell potenter Interessenten an Atombomben-Material so manchen nicht ganz charakterfesten Menschen in Versuchung führen.

Und schließlich: Die gesamte Atomwirtschaft ist ein eng verflochtenes System von Akteuren und Kontrolloren, die gemeinsam unter Dauerbeschuß medialer Kritik stehen. Das ist kein Klima, in dem wirksame Aufsicht gedeiht.

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